Gelbwesten: „Volksaufstand“, immer samstags

Christian / 03. Februar 2019

Zum 12. Mal demonstrierten gestern die Gelben Westen, 13.000 in Paris, 6.000 in Valence, 8.000 in Strasbourg, 4.000 in Bordeaux, 2.000 in Marseille. Ihr Protest richtete sich gegen die Polizeigewalt, die neben Tränengas und Schlagstöcken auch mit Gummigeschossen vorgegangen war. In Paris, sah ich im Internet, kam es auch zu Schlägereien zwischen rechten Gelbwesten und Antifa‐Leuten. Ich habe diese neue soziale Bewegung, seit November, nur medial verfolgt, habe dabei von ihren Sprechern kaum Aufschlussreiches über ihre politische Orientierung gehört und bin entsprechend unsicher, wie sie einzuschätzen ist und wohin die Reise geht.

Ich will aber trotzdem eine Einordnung versuchen und beziehe mich dabei hauptsächlich auf die Interview‐Aussagen von Eribon und seinen Freunden[1].

Bei allen Spekulationen darüber, wohin diese neue Protestbewegung zielt und was sie bewirkt, muss man zunächst festhalten: Macrons „Agenda 2018“ ist durch die Massenproteste der Gelbwesten gestoppt worden. Und das ist sicher etwas Neues in einer politischen Landschaft, in der seit den 80er Jahren jede Reform zur Wachstumsförderung, Steuererleichterung oder Sozialkürzung glatt über die Bühne gegangen ist – vor allem, aber längst nicht nur in Deutschland.

Neu ist sicher auch, dass der Protest nicht ausgegangen ist von den Üblichen Verdächtigen, Gewerkschaften, Studierenden, Frauen und Umweltaktivisten usw., sondern von Milieus, die man sonst als Schweigende Mehrheit kannte. Wenn die sich jetzt für sozialstaatliche Verbesserungen zu Wort melden und „anarchistisch“ tätig werden, ist das ohne Frage begrüßenswert. Ambivalent bleibt ihre politische Einordnung.

Ich las, dass Umfragen übereinstimmend zum Ergebnis kamen, dass jeweils etwa 20 % der Aktivisten angaben, Le Pen bzw. Mélenchon gewählt zu haben, 13 % arbeitslos waren, das Gros einfache Arbeiter und Angestellte. Die Statements ihrer Sprecher konzentrierten sich durchgängig darauf, ihre prekäre Lebenssituation zu schildern und Forderungen nach höheren Einkommen und sozialer Versorgung zu wiederholen. Auch die mitgeführten oder intonierten Slogans folgten dem Muster, und es liegt nahe zu vermuten, dass die Organisatoren auf entsprechende „Überparteilichkeit“ gedrängt haben.

Wie immer, wenn etwas Neues auftritt, sucht man nach Bezugspunkten. Im Interview wird gesagt, dass die Vorort‐Revolten der jugendlichen Migranten Avantgardfunktion für die Gelbwesten hatten. Das mag für einige Aktionsformen zutreffend sein, aber in den Banlieues selbst ist das nicht so aufgefasst worden. Von Verbrüderung der Kleinen Leute vom Lande mit den Migranten‐Kids der Vorstädte war nichts zu sehen. Zur anderen Seite hin besteht zwar ein gewaltiger Unterschied zu den auch hierzulande Woche für Woche statt gefundenen Montagsdemos mit ihrer eindeutig fremdenfeindlichen Stoßrichtung, aber die Frontstellung, hier vernachlässigte Kleine Leute, dort die großstädtischen Eliten und ihre „Lügenpresse“, ist dieselbe.

Fraglos muss man die Vorgänge in Frankreich einordnen in die überall in Europa beobachtbare Krise des politischen Systems und der staatstragenden Parteien. Christ‐ und Sozialdemokraten sind überall im Tief oder gar marginalisiert, Syriza, 5Sterne, Podemos oder Lega Nord, AfD und Neofaschisten auf dem Vormarsch. Auch Macron und Gelbwesten sind Resultat dieser Parteienkrise. Und neu ist auch, dass linke wie rechte Bewegungen die Gemeinsamkeit populistischer Anführer (Berlusconi, De Wilders, Le Pen sowie Tsipras, Grillo und Mélenchon) haben und sie überdies in Ablehnung des „Systems“ Offenheit für Querfront‐Koalitionen zeigen. In dem Kontext halte ich das Urteil der Interviewten, dass die Gelbwesten eindeutig links orientiert seien und die Linke in Europa auf dem Vormarsch sei, für verfehlt.

Bei Montagsdemos wurde skandiert „Merkel muss weg“, hier: „Macron dégage“ (hau ab). Und in beiden Fällen wird deren EU‐Politik für „soziale Gewalt,… Verarmung, Verunsicherung und Abbau des Sozialstaates“ verantwortlich gemacht, so als hätten sie als Agenten einer auswärtigen Macht die „desaströse“ Lage des (französischen) Volkes herbeigeführt. Und ihre Wirtschaftspolitik erscheint dann als eine Art Komplott, um, wie sie sagen, „die Reichen noch reicher zu machen.“ Wider alle ökonomische Vernunft fließe „das sich akkumulierende Kapital… in irgendwelche Steuerparadiese und wird nicht vor Ort investiert.[2]“ Ohne es zu merken, greifen sie damit auf „sedimentierte Diskurse und Ideologien“ zurück, die zwar „Rassismus und Fremdenfeindlichkeit“ verurteilen, aber die gesellschaftlichen Antagonismen hinbiegen auf das gute investive und böse spekulative Kapital, auf die französische Volksgemeinschaft und das internationale Spekulantentum.

De Lagasnerie behauptet, dass bei den Gelbwesten die Linke den „Kulturkampf“ gewonnen habe. Wenn dem so wäre, müsste nicht nur der Einfluss der Le Pen‐Leute bei den Gelbwesten neutralisiert sein, sondern insgesamt mit dieser Bewegung der grassierende Rechtsextremismus der kleinen Leute passé sein. Ein frommer Wunsch.

Belegbarer sind dagegen die Tendenzen für das Gegenteil, die Annäherung „linker Kultur“ an populistische Positionen. Eribon und seine Kollegen ordnen die Gelbwesten der politischen Bewegung La France Insoumise (LFI) von Mélenchon zu und hoffen darauf, dass der gegenwärtige „Volksaufstand“ zum Sieg Mélenchons bei der nächsten Präsidentschaftswahl führt: eine „revolutionäre Volksbewegung“, die einmündet in die Kür eines neuen Präsidenten! Derlei Volksbewegungen kennen wir zuhauf, vom Iran bis zum ägyptischen Frühling, von Ortega und Chavez bis hin zu Tsipras, Di Maio und Salvini. Und jenseits der Frage, wie realistisch diese Prognose ist, spiegelt sie genau die Widersprüchlichkeiten, die La France Insoumise von Anbeginn hatte: Sie geriert sich als Basisbewegung von fortschrittlichen Aktivisten aus der Umweltbewegung, den Gewerkschaften, der Frauenbewegung etc., ihr Dreh‐ und Angelpunkt ist und war aber Mélenchon und seine Präsidentschaftskandidatur, die Basis seine Unterstützer, die hauptsächlich via Internet rekrutiert und vernetzt sind. Die programmatische Ausrichtung gab und gibt Mélenchon mit seinen Redeauftritten und Blogs vor: ein basisdemokratischer Bonapartismus.

Mélenchon selbst versteht sich hauptsächlich als „Patriot“, dessen Hauptanliegen es ist, die Souveränität Frankreichs zu bewahren, und seine Vaterlandsliebe geht soweit, dass er fallweise auch davon schwärmt, in wie vielen Ländern Französisch Amtssprache ist, als habe Francophonie nichts mit Kolonialismus zu tun. Ebenso ausgeblendet wird bei allem Lamento über die EU und das multinationale Kapital die Rolle, die französische Konzerne, Peugeot und Renault, EDF, Total und Airbus oder Crédit Lyonnais und Banque Nationale bei der Beherrschung des Weltmarktes spielen. So finden sich im Programm von LFI zwar eine Vielzahl begrüßenswerter Maßnahmen zum sozialen und ökologischen Umbau der Wirtschaft, aber von der Aufgabe der weltweiten Produktions‐ und Vertriebsstandorte von Peugeot und Alstom, Airbus und Danone ist natürlich keine Rede. Sie sind eben Teil der „nationalen Souveränität“ und ebenso unverzichtbar wie das französische Militär samt Force de Frappe, das ihren Schutz gewährleistet.

Dass diese nationale Orientierung auch praktisch in Widerspruch gerät zur „linken Kultur“, ist vor wenigen Monaten[3] kenntlich geworden. Anlässlich einer Debatte in der Nationalversammlung über die Flüchtlingspolitik hatte ein Zusammenschluss diverser Flüchtlingsorganisationen ein Manifest mit Unterschriftensammlung verfasst, in dem es heißt: „Es ist illusorisch zu glauben, man könne den Zuzug von Migranten eindämmen oder gar stoppen. Wer es machen will, landet zwangsläufig immer bei Schlimmerem. Aus Regulierung wird verschärfte Polizei‐Kontrolle, aus der Grenze eine Mauer.“[4] Daher plädieren sie gegen jede Form von Abschottungspolitik. Mélenchon wandte sich dagegen, mit dem Argument: „Das bedeutet, Grenzen auszuschließen. Wir sind gegenteiliger Ansicht. Wir glauben an den Nutzen von Grenzen. Wie sonst wäre der solidarische Protektionismus unseres Wirtschaftsprogramms zu bewerkstelligen?“[5] Fast alle Abgeordneten von LFI verweigerten daraufhin die Unterschrift.

Dieselbe Kontroverse ist wenige Wochen später in der „linken“ 5Stelle‐Bewegung Italiens aufgebrochen. Dort ging es um die Zustimmung zur Gesetzesvorlage des rechtsextremen Innenministers Salvini „Sicherheit und Immigration“, mit der die Abweisung und polizeiliche Verfolgung von Flüchtlingen und Illegalen verschärft sowie deren soziale Versorgung reduziert werden soll. Als sich fünf 5Stelle‐Senatoren weigerten, dem zuzustimmen, wurden sie prompt aus der Fraktion ausgeschlossen.

Im Unterschied zur italienischen Linksrechts‐Regierung weigert sich Mélenchon, in irgendeiner Weise mit Le Pen zu kooperieren. Während Letztere ihrerseits thematisiert, dass es „Konvergenzen“ zwischen Rassemblement National und La France Insoumise gibt und sagt, dass das alte Links‐Rechts‐Muster durch die neue Frontstellung Globalisten oder Patrioten abgelöst sei, will Mélenchon von dieser neuen Gemeinsamkeit nichts wissen, obwohl er auch die nationale Souveränität zum Dreh‐ und Angelpunkt seines Programms erklärt hat und deshalb z.B. darauf besteht, dass auf Kongressen nicht die Internationale gesungen wird, sondern die Marseillaise.

Ob und wann, nach Griechenland und Italien, es auch in Frankreich zu einem neuen Rechts‐links‐Bündnis kommt, weiß man nicht. Absehbar ist allerdings, dass diese Tendenz mit der Europawahl im Mai einen neuen Schub erhalten wird. Denn erstmalig könnten die diversen EU‐Gegner zur stärksten Fraktion aufsteigen und so den Brüssler Apparat lahmlegen. Dieses Ziel haben jedenfalls die rechten EU‐Gegner im Auge.

Als Wahlkampfhelfer ist schon im letzten Sommer Steve Bannon[6] zum Treffen mit Salvini nach Italien gereist, um logistische Hilfe anzudienen[7]. Salvini, so ist der Plan, soll nächster Ratspräsident werden, zumindest soll aber im Verein mit den osteuropäischen Nationalisten und eben den oppositionellen EU‐Linken Brüssel handlungsunfähig gemacht werden. Man muss das nach Trumps unerwartetem Wahlsieg wohl ernst nehmen.

r Was bis zum Mai aus den Gelbwesten geworden ist, kann man nicht wissen, als Modetrend werden sie sicher Schule machen. Aber ich sehe nicht, dass diese Samstagsdemos samt Straßenblockaden größere Durchsetzungskraft und Langlebigkeit haben als die traditionellen Aktionen von Umweltgruppen, Fraueninitiativen, Schülern, Studierenden und nicht zuletzt die gewerkschaftliche Gegenwehr gegen Teuerung, Flexibilisierung und Sozialabbau. Sicher bin ich, dass die Einschätzungen der Interviewten, hier gehe es um eine revolutionäre Erhebung, maßlos übertrieben sind, ebenso wie die Statements ihres Präsidenten in spe, der im November in der Nationalversammlung von nichts weniger als einer neuen Ära in der Geschichte des Landes und einer unaufhaltsamen Revolution der Citoyens sprach.


[1] Gespräch mit den drei französischen Linksintellektuellen Didier Eribon, Edouard Louis und Geoffroy de Lagasnerie über die Proteste der „gilets jaunes“ in der Zeitschrift Republik republik.ch/2019/01/14/das-ist-nicht-neoliberalismus-das-ist-klassenkampf

[2] Zitate aus dem Interview in Republik

[3] Oktober/November 2018

[4] Von Christian übersetzt. Offizielle Version in Deutsch unter: https://www.transform-network.net/de/blog/article/manifesto-for-the-welcoming-of-migrants/

[5] https://melenchon.fr/ übersetzt von Christian

[6] Rechter Ideologe, Publizist, Filmemacher; 2014 an der Gründung der Datenanalyse-Firma Cambridge Analytica beteiligt; ehemal. Investmentbanker; ab 2016 Trumps Berater und Leiter seines Wahlkampfs, vor und nach seinem Intermezzo in Trumps Beraterstab leitende Position bei Breitbart News, rechtspopulistische Meinungsplattform (Alt‐Right, gegen Globalisierung und Establishment).

[7] Bannon ist seit Jahren als rechtspopulistischer Reisekader in Europa unterwegs. Siehe auch: Telefonkonferenz 2014 über Skype mit Bannon im Rahmen einer Konferenz des Human Dignity Institute im Vatikan zum Thema »Armut«. Erschienen am 15.11.2016 auf BuzzFeed.COM URL: https://www.buzzfeed.com/lesterfeder/this-is-how-steve-bannon-sees-the-entire-world?utm_term=.giopx18Wk#.hq2lMx0rn.