Die deutsche Linke muß anerkennen, nunmehr Opposition in einer Großmacht zu sein.”

ak — Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 340 / 11.03.1992
hier veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung

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Interview mit Moishe Postone

Moishe Postone arbeitet als Soziologe an der University of Chicago. Zwischen 1972 und 1982 lebte er in Frankfurt/M. und war dort insbesondere mit Fragen der Marxschen Theorie sowie fortschrittlichen Ansätzen jüdischer Politik befasst. In Zirkeln der radikalen Linken gehört Postone seit einiger Zeit insbesondere aufgrund seiner Antisemitismus‐Theorie zu einem der viel gelesenen Autoren. Im Januar dieses Jahres hatten wir am Rande einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung die Gelegenheit, uns mit Moishe über die Situation der deutschen Linken, den Golfkrieg, das deutsche Verständnis von “nationaler Selbstbestimmung” sowie über Grundannahmen seiner Antisemitismus‐ Theorie zu unterhalten. Der zuletzt genannte Gesprächsteil basiert auf dem Postone‐Aufsatz “Antisemitismus und Nationalsozialismus”, dessen Grundaussagen in dem nebenstehenden Artikel zusammengefaßt wurden. FragestellerInnen waren cl., ju. und max.

AK: Nach Bitburg hast Du in Deinem “Offenen Brief” an die bundesdeutsche Linke geschrieben, es gebe hierzulande nur zwei Möglichkeiten: Die vollständige Versöhnung mit der deutschen Vergangenheit, oder den dauerhaften Bruch …

Moishe Postone: “Dauerhafter Bruch” ist eine unglückliche Übersetzung. Es gibt keinen einmaligen, endgültigen Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Sie sitzt zu tief und erfordert eine ständige Selbstreflexion, was natürlich anstrengend ist.

Seit 1985 ist die Entwicklung jedoch ganz anders verlaufen. Die Rechte hatte während der 80er Jahre versucht, ihre Hegemonie wiederzugewinnen, indem sie deutsche Vergangenheit positiv besetzt hat — Bitburg, Historikerstreit, die Frage nach einer deutschen historischen Identität. Auf diese bedeutsame kulturpolitische Offensive hat die bundesdeutsche Linke nicht ausreichend geantwortet. Sie hatte nicht begriffen, was auf dem Spiel stand. Ein Mangel an Selbstreflexion ist auch in den Reaktionen auf den Golfkrieg zutage getreten. Ich war nicht hier, ich kenne nicht die ganze Bandbreite an Postitionen. Es kann sein, daß mein Blick verzerrt ist. Aber wenn es zutrifft, daß sich Deutsche mit den Einwohnern Bagdads identifiziert hatten und unmittelbar angegriffen fühlten, dann wurden damit nach meiner Auffassung verdrängte Schuldgefühle ausagiert. Es gab während der Demonstrationen Transparente, die hatten die nationalistische Parole aus Leipzig (“Wir sind ein Volk”) in “Wir sind ein Volk gegen den Krieg” transformiert und dadurch die Nation in ihrer Opposition zur NATO wiederhergestellt.

Ich hatte eine andere Wahrnehmung. Ab einem bestimmten Zeitpunkt sind nach Meinungsumfragen 80% hierzulande für den Krieg eingetreten. Die Bundesregierung war ab einem bestimmten Zeitpunkt bemüht, die Stimmung in diese Richtung zu schüren …

Ich rede vom Bewußtsein der Gruppen, die ein solches Transparent getragen haben. Ich will nicht behaupten, daß ihre Parole empirisch stimmt. Das war nur als Beispiel gedacht. Was mich hauptsächlich beschäftigt: Die Linke war nicht in der Lage, die Frage der deutschen Macht zu problematisieren. Nach 1985 habe ich mit Freunden und Bekannten, hauptsächlich in Frankfurt, darüber gesprochen, daß Deutschland wieder eine Großmacht wird. Sag’ das bloß nicht, wurde mir erwidert. Dieser Gedanke war ihnen so unangenehm, sie wollten das nicht hören.

Welche Art der Auseinandersetzung forderst Du? Es gibt die Forderung, die Opposition müsse endlich ebenfalls in Großmachtkategorien denken, um deutsche Politik zu beeinflussen.

Man muß unterscheiden zwischen Positionen, die sich Großmachtkategorien zu eigen machen, und Positionen, die einfach anerkennen, nunmehr Opposition in einer Großmacht zu sein. Der Charakter der Oppositionspolitik hat sich gegenüber den 60er Jahren notwendigerweise verändert.

Inwiefern?

Die amerikanische Opposition beschäftigt sich hauptsächlich mit amerikanischer Politik. Die deutsche Opposition beschäftigt sich hauptsächlich mit — amerikanischer Politik. Das meinte ich.

Antinationale Politik während des Golfkriegs

Man sollte sich nicht täuschen: Daß die Bundesregierung im Golfkrieg das Bündnis mit den USA betonte, bedeutet noch lange nicht, daß eine linke Opposition sich erlauben kann, einen nationalistischen Standpunkt in dem Glauben einzunehmen, er sei oppositionell. Was empirisch als oppositionell erscheint, ist es nicht unbedingt auch politisch. Z.B. fand ich Vorschläge sehr bedenklich, daß Deutsche eine Menschenkette zwischen der Kriegsallianz und den irakischen Truppen bilden sollten. Nicht nur, weil es unrealistisch ist, sondern weil es den Inhalt vermittelt, Deutschland müsse wegen seiner Vergangenheit nun besonders moralisch sein. Dahinter steckt ein sehr altes, nationalistisches Muster: Wir Deutschen sind eigentlich anders, idealistischer.

Hätte die BRD‐Linke den Krieg unterstützen sollen?

Das will ich damit nicht sagen. Ich rede vom Charakter der Opposition. Die Frage, ob die deutschen Linken für oder gegen den Krieg waren, ist weniger wichtig, als die Frage, wie sie dafür oder dagegen waren. Die Herausbildung einer Opposition gegen die sich entwickelnde Großmacht ist ein Lernprozeß. Es kommt darauf an, ob die Argumentationen einen Beitrag zu diesem Lernprozeß geleistet haben.

Worauf hätte hierzulande eine antinationale Kritik des Golfkrieges basieren sollen?

Ich denke, der Golfkrieg hätte von den Linken als ein Moment der Selbstreflexion genutzt werden sollen. Er stellte frühere politische Deutungsmuster der Linken in Frage. Die traditionell antiimperialistische Haltung war bemüht, die jeweilige politische Gegenkraft zu unterstützen.

Beim Golfkrieg wurde zwar gesagt: Wir sind nicht für Saddam Hussein. Aber das Problem wurde nicht konsequent durchdacht: Was heißt es, wenn sich ein durchaus imperialistischer Krieg gegen einen Lokalfaschisten richtet? Das ist ein Dilemma, das reflektiert werden mußte. Es war nicht einfach zu klären, welche eigenen Handlungen richtig waren, sondern es kam zunächst darauf an, diese zwei Seiten zur Sprache bringen. Daß das Baath‐Regime in Bagdad eine faschistische Regierung darstellt, bedeutet nicht, daß George Bush einen antifaschistischen Krieg geführt hat. Wer andererseits über das Regime Saddam Husseins schweigt, impliziert damit, es sei von dieser Seite irgendwie doch ein antiimperialistischer Krieg gewesen — und das war es nicht.

Für uns als BRD‐Linke kam als besonderes Dilemma hinzu, daß einerseits das Ausbleiben einer adäquaten Reaktion auf die Beschießung Israels mit Scud‐ Raketen, die mit deutschem Giftgas hätten gefüllt sein können, die Frage des hierzulande verwurzelten Antisemitismus aufgeworfen hat. Und daß andererseits u.a. für deutsche Militaristen die israelische Bedrohung ein Vorwand war, die Bundeswehr erstmals seit 1945 gegebenenfalls wieder als Interventionsarmee einzusetzen.

Fast niemand hat die jüdische Befindlichkeit nachempfunden”

Man muß zwei Begriffe auseinanderhalten: Empathie und Identifikation. Gäbe es in Deutschland den geringsten Grad an Empathie, hätte man doch wahrnehmen müssen, daß dieser Krieg und seine Vorgeschichte für sehr viele Juden ein extremes Trauma darstellte. Nicht nur, weil Israel mit Raketen beschossen wurde. Sondern auch, weil dieser Krieg ein Jahr nach der deutschen Wiedervereinigung stattgefunden hat, die für viele Juden ein großes emotionelles Problem darstellt. Und schließlich hatte Saddam Hussein schon vor dem Krieg zum ersten Mal seit 1967 die Frage der Existenz Israels auf die Tagesordnung gesetzt. Jeder weiß oder sollte wissen, daß es bei der Frage nach der Existenz Israels nicht nur um die Existenz eines Staates geht, wie z.B. die Frage nach der Existenz der ehemaligen DDR als zweiter “deutscher” Staat, sondern daß es dabei auch um das Leben der Menschen dort geht. Den Juden ist das klar. Aber viele Linke tun so, als verstünden sie das nicht. Zum Trauma hat weiter beigetragen, daß Israel auf die Raketenangriffe nicht reagieren durfte. Damit war — ich spreche jetzt auf einer psychischen Ebene — das Trauma verbunden, wieder, wie in der Vergangenheit, passiv die Bedrohung abwarten zu müssen. Aber fast niemand in der deutschen Linken hat diese jüdische Befindlichkeit nachempfunden. Eine solche Empathie wäre durchaus möglich gewesen, ohne daraus die Unterstützung einer bestimmten Politik abzuleiten.

Es geht keinesfalls darum, ein Bekenntnis zu Amerika abzugeben. Es geht auch nicht darum, ob sich Positionen als antizionistisch definieren. Es geht um die politischen Inhalte von Argumentationslinien. Man kann durchaus eine antizionistische Politik betreiben, die nicht mit der unter der bundesdeutschen Linken weit verbreiteten tiefemotionellen Abwehr gegenüber dem Wort Zionismus behaftet ist. Für einige ist bekanntlich der Zionismus das Schlimmste was es gibt. Sie malen Bilder, die eine seltsame Mischung sind aus althergebrachten antisemitischen Motiven und der Vorstellung, daß die Juden sich wie die Nazis verhalten. So können diese Leute zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Man trifft die ältere Generation, und setzt gleichzeitig ihre Ideologie fort. Eine perfekte Konstruktion. Viele in Deutschland, die dachten, sie hätten mit der NS‐ Vergangenheit gebrochen, haben manchmal hinter ihrem eigenen Rücken Elemente der NS‐ Vergangenheit verlängert. Das ist eine Tragödie.

Siehst Du Verbindungen zwischen antiamerikanischen und antisemitischen Denkmustern? Z.B. im Kontext eines romantischen Antikapitalismus?

Es gibt tatsächlich eine Form des Antiamerikanismus, die antisemitischen Vorstellungen ähnlich ist. Wenn antikapitalistisch bloß im Sinne von “antikommerziell” verstanden wird, liegt eine grundlegende Verwechslung zwischen einer Kapitalismuskritik und einer Zirkulationskritik vor. Zuweilen wird in Bezug auf die USA ein Gegensatz reproduziert, der früher als Gegensatz zwischen der “Heldennation” Deutschland und der “Krämernation” England virulent gewesen ist. Solcher Antiamerikanismus ist nicht gleich Antisemitismus, konvergiert aber mit antisemitischen Vorstellungen.

Selbstbestimmung

Von Dan Diner stammt das Wort, man könne als Linker in Deutschland die Nation nur für den Preis positiv besetzen, daß der Nationalsozialismus vergessen gemacht wird. Wer die deutschen Verbrechen in Rechnung stelle, könne den Begriff “Nation” hierzulande nur negativ besetzen.

Das ist vielleicht überspitzt formuliert, enthält aber eine wichtige Wahrheit: Solange diese Nation ethnisch definiert wird, wird sie sich nicht in politischen Auseinandersetzungen grundlegend neu definieren. Dafür läßt die ethnische Definition keinen Spielraum. Gerade deshalb ist es wichtig, sich in Deutschland für ein Einwanderungsgesetz einzusetzen. Dies würde auf praktischer Ebene eine neue Definition von Nation beinhalten.

Eine auch im Rahmen der Tagung “Kann sich die deutsche Geschichte wiederholen?” vertretene Position besagt, daß ein derartiges Gesetz und auch die Beseitigung des Deutschtum‐ Paragraphens aus dem Grundgesetz abgelehnt werden müsse, weil die deutschen ideologischen Dämone, die latent noch vorhanden seien, durch derartige “Überforderungen” nicht zum Leben erweckt werden dürften …

Ich bin mit dieser Position nicht einverstanden. Ich glaube zwar auch, daß diese Dämone existieren. Aber sie sind da, und werden nicht von allein verschwinden. Es kommt darauf an, sich mit ihnen auseinanderzusetzen! Ich habe über die “Philo‐Ausländerbewegung” des letzten Herbstes gelesen. Manches fand ich sehr bedenklich. Dem Ausländerhaß mit scheinbarer Ausländerliebe begegnen zu wollen, ist einfach verlogen. Man sollte die Ausländer nicht für so dumm verkaufen. Ihre Situation ist eine Frage des Rechts, nicht der Liebe. Zweitens hilft es auch nichts, das ganze deutsche Volk als dumm und stumpfsinnig darzustellen. Das ist provozierend und für den politischen Kampf untauglich. Sich zu schämen, Deutscher zu sein, kann ich gefühlsmäßig nachvollziehen, aber es ist kein politischer Standpunkt.

Zu den historisch besetzten Chiffren deutscher Aggressionspolitik gehört die Formel von der “nationalen Selbstbestimmung”. Ist es notwendig, zwischen dem US‐amerikanischen und dem deutschen Verständnis von “Selbstbestimmung” zu differenzieren?

Man muß den Begriff der Selbstbestimmung differenzieren — er kann sehr Verschiedenes bedeuten. Traditionell hat die deutsche Politik “Selbstbestimmung” immer ethnisch verstanden. In Bezug auf die Region zwischen Deutschland und Rußland ist die Politik der ethnischen “Selbstbestimmung” ein Vehikel gewesen, deutsche Herrschaft zu realisieren. In den USA definiert sich die Nation nicht ethnisch, sondern allein über die Staatsbürgerschaft.

Ist es theoretisch plausibel, einen fundamentalen Gegensatz aufzumachen zwischen einer ethnisch‐ völkisch definierten Nation und einer Nation der Staatsbürger? Ich denke dabei an Aussagen der “Dialektik der Aufklärung”, bereits diese staatsbürgerlich definierte Gleichheit, die immer nur Gleichheit angesichts eines Souveräns sein könne, sei auf dem Sprunge, in völkische Gemeinschaftsbildung umzuschlagen. Selbst dieser humane, auf Freiheit und Gleichheit gegründete Nationenbegriff trüge dann die Tendenz zur Barbarei bereits in sich.

Mir scheint das Selbstbestimmungsrecht eines Volkes, wenn das Volk politisch definiert ist, in eine andere Richtung zu weisen, als ein ethnisches “Selbstbestimmungsrecht des Volkes”. Auch dieses Volk kann, wie Du sagst, sich als Scheingemeinschaft betrachten und sich in eine derartige Richtung entwickeln. Aber diese Entwicklung ist nach meiner Ansicht mit dem politischen Begriff von Volk nicht notwendig verbunden. Beim ethnischen Begriff sehe ich fast keine andere Perspektive. Der Begriff von “Volk” in Deutschland ist eigentlich ein vorpolitischer Begriff, während “people”, ein politischer Begriff ist, der schwer zu naturalisieren ist. Die Frage nach dem politischen und gesellschaftlichen Inhalt von Selbstbestimmung ist somit diskutierbar. Aber es kann sein, daß selbst diese Unterscheidung nicht ausreichend ist.

Nationalsozialismus und Antisemitismus

Du hattest bereits in den 70er Jahren den Text “Nationalsozialismus und Antisemitismus” geschrieben. Es ist sehr auffällig, daß der Text zwar in der BRD veröffentlicht wurde, daß die westdeutsche Linke das Diskussionsangebot aber fast vollständig ignorierte. Erst seit ein, zwei Jahren findet er eine gewisse Resonanz. Warum diese Verzögerung? Liegt es an der starkenDominanz des Marxismus‐Leninismus? Am nichtvorhandenen Verhältnis der Linken zur deutschen Vergangenheit, die Du ja kritisiertest?

Ich kann hier nur Vermutungen anstellen. Einmal paßt der Ansatz überhaupt nicht in jene funktionalistische Form des Marxismus, welche nichtfunktionalistisches Denken gar nicht verstehen kann. Zweitens fielen die späten 70er Jahre schon in eine Zeit, in der große Teile der Linken meinten, sich vom Marxismus überhaupt abseilen zu sollen. An meinem Versuch, marxsche Kategorien zu benutzen, hatten diese kein Interesse. Drittens gilt der Antisemitismus für viele als irrelevant. Ob unter Marxisten oder Nichtmarxisten — er ist kein Thema. Antisemitismus gilt höchstens als ein Manöver, die Arbeiterklasse zu spalten. In Frankfurt hatte der Text doch Diskussionen ausgelöst, die sich aber nicht schriftlich niedergeschlagen haben. Was ist nach Deiner Auffassung der Grund?

Ich denke, es hängt mit einer großen Theoriemüdigkeit, um nicht zu sagen, Theoriefeindlichkeit, zusammen. Theorie wurde sehr verkürzt als Anleitung zum Handeln begriffen. Sie wurde fast immer abgewiesen, wenn sich keine neue Kampagne damit betreiben oder begründen ließ. Das aktuelle Interesse hängt wohl damit zusammen, daß ein Teil der deutschen Linken sich heute verstärkt damit beschäftigt, wo sie überhaupt herkommt und in welchem Land sie lebt …

Ich habe noch eine Frage zur Rezeption Deines Textes. In der Debatte wird zuweilen der Vorwurf erhoben, es ginge Dir nicht darum, zu begreifen, warum das, sondern was 1933 durchgebrochen ist. Dem Vorwurf zufolge wird hier eine Abstraktionsebene eingenommen, die zu universal argumentiere, als daß konkrete historische Erscheinungen noch auf den Begriff gebracht werden könnten. Deine Argumentationsweise laufe insofern auf linken Strukturalismus hinaus.

Das ist seltsam. Es ist, als ob man Marxsche Kategorien wie Ware und Kapital als Erklärungsmuster kritisieren würde, weil sie nicht den Unterschied zwischen deutschem und japanischem Imperialismus erklären. Wenn es modernen Antisemitismus nur in Deutschland gegeben hätte, würde ich den Vorwurf verstehen. Aber der Antisemitismus hatte zwischen 1880 und 1945 ganz Europa im Griff. Die ganze Zeitspanne kann man als ein antisemitisches Zeitalter betrachten. Dies stellt die lineare Entwicklungsvorstellung des Liberalismus, bzw. des Marxismus der 2. Internationale vollständig in Frage. Der Antisemitismus wurde als vorkapitalistische Form verstanden. Plötzlich taucht er aber nochmal auf und wurde sehr stark. Und er verbreitet sich in den meisten kapitalistischen Ländern. Es gibt Unterschiede …

… z.B. Rußland?

… dort war der Antisemitismus sehr stark. Es gab seit 1881 große Pogrome. Ein Großteil der Juden in Amerika verließ Rußland damals aufgrund dieser Pogrome.

Obwohl dort 1880 der Kapitalismus noch nicht voll entwickelt war …

Man sollte Rußland nicht einfach als vorkapitalistisch definieren. Es gab schon die Wirkungen des kapitalistischen Weltsystems auf dieses Land. 1880 bildeten sich mit dem russischen Antisemitismus zugleich antisemitische Parteien in Frankreich, Österreich und Deutschland.

Natürlich ist es richtig, die Frage der Ausbreitung des Antisemitismus auch spezifisch anzugehen. Wieso gibt es einige wenige kapitalistische Länder, in denen zwar antijüdische Vorurteile existieren, nicht aber das Bild von der jüdischen Weltverschwörung, das den modernen Antisemitismus auszeichnet, so etwa in den USA, in England und in den Niederlanden, während Frankreich ebenso antisemitisch gewesen ist wie Deutschland? Ich habe in einer Fußnote des erwähnten Aufsatzes hierzu eine Vermutung formuliert: Vielleicht gibt es einen Zusammenhang zwischen den frühkapitalistischen Phasen jener Länder und den späteren Formen des Antisemitismus. In England, Holland und den USA wurde die kapitalistische Rationalisierung

über den Markt verwirklicht. In Frankreich und Deutschland erfolgte sie hingegen über den Staat, d.h. auf einer konkreteren Ebene. Und genau in diesen Ländern erschienen später die gesellschaftlichen Prozesse, die mit dem industriellen Kapitalismus verbunden sind, mysteriös und bedrohlich. Diese Prozesse wurden dann als Machenschaften der Juden gesehen. Jene sogenannten “liberalen” Länder, die am frühesten und über den Markt kapitalisiert wurden, weisen weniger Antisemitismus auf, als die anderen.

In Deinen Untersuchungen wird der Antisemitismus unmittelbar aus den Widersprüchen der kapitalistischen Ordnung abgeleitet. Da die Juden die undurchschaubare, abstrakte Kapitalherrschaft personifizierten, stand Auschwitz demnach für die Scheinumwälzung der bestehenden Gesellschaftsformation. Ist die kapitalistische Ökonomie der einzige Bedingungsfaktor für Antisemitismus? Speist sich die massenhafte Barbarei, z.B. der eugenisch begründete Massenmord, nicht auch aus anderen Quellen?

Zunächst sind Kapital und Ware für mich keine ökonomischen Begriffe. Ich betrachte diese marxschen Kategorien als Formen strukturierter Praxis — genau wie ein Ethnologe in einer anderen Gesellschaft Kategorien ihrer Handlungen herauszubekommen sucht. Die NS‐Eugenik verstand sich nicht als Barbarei, sondern als ein Gipfel der Wissenschaft. Man muß das ernstnehmen. Aus der Tätersicht war die Eugenik eine Sozialutopie. Man glaubte, eine heile Welt schaffen zu können. Das Modell war die Tierzucht. Wenn man schnellere Pferde züchten konnte, warum dann nicht auch “klügere”, “gesündere”, “anständigere” Menschen. Zweitens liegen der Eugenik wie dem Antisemitismus biologistisches Denken zugrunde. Das führt zu der Frage, warum die Europäer mitten im 19. Jahrhundert begonnen haben, biologistisch zu denken? Viele meinen, dies sei eine atavistische Denkform. Tatsächlich aber wurde um die Jahrhundertwende dem Klassendenken das Rassedenken als moderner und wissenschaftlicher gegenübergestellt. Aber man muß diese biologistischen Denkformen — Rassismus, Antisemitismus, Eugenik — differenziert sehen. Zwar stimmt es natürlich, daß die Nazis damit begonnen haben, sogenanntes “minderwertiges Leben” auszurotten. Aber das gehörte nicht zum wesentlichen Kern ihrer Ideologie. Als die Kirche sagte, hört mit der Euthanasie auf, wurde damit aufgehört. Es ist undenkbar, daß die Deutschen am Ende des Krieges, als sie alle Transportmittel brauchten, die ihnen zur Verfügung standen, weiterhin Geisteskranke transportiert hätten. Dies aber machten sie mit den Juden. Deshalb muß man versuchen zu verstehen: Was hat sie dazu getrieben? Woher kam die Kraft dieser antisemitischen Vorstellungen?

Allein aus einem verzerrten Antikapitalismus?

Was sonst?

Ich bin überfragt. Welche Rolle könnten psychologische Kategorien spielen; kollektive Aggressionszwänge, Destruktionsenergien?

Wenn man psychologische Kategorien benutzt, muß man sie auch historisch einordnen — sonst wäre vernichtender Antisemitismus transhistorisch, und das ist er nicht. Leute wie Adorno, Horkheimer, Marcuse usw. versuchten gerade, psychologische Kategorien so zu historisieren, daß sie in einen Zusammenhang mit Kapitalkategorien gestellt werden können.

Muß man sich nicht freimachen von der Vorstellung, es müsse eine Art Rebellion gewesen sein, die irgendwo berechtigt war aber nur das falsche Objekt getroffen hat?

Im Gegenteil. Wenn ich sage, es war eine Revolte, so will ich damit nicht sagen, daß es berechtigt oder gut war. Es geht darum, eine Bewegung zu begreifen. Man kann nicht verneinen, daß sich der Nationalsozialismus selbst als Revolution betrachtet hat — genau wie auch der italienische Faschismus, obwohl sie ganz verschieden waren. Die funktionalistische Theorie der orthodoxen Marxisten kann dieses Moment der Revolte nicht begreifen. Die Nationalsozialisten haben sich als Kämpfer empfunden, als Revolutionäre. Es gibt einen hervorragenden Film von Marcel Ophüls: La chagrin et la pitié. Er hat darin einen französischen Adeligen aus Clermont‐Ferrand interviewt, der vor Stalingrad an der Seite der Deutschen gekämpft hatte. Ophüls fragte ihn nach seinen Motiven. Er habe, so seine Antwort, als junger Mann die bürgerlich‐kapitalistische Gesellschaft unausstehlich gefunden. Wegen seiner Klassenzugehörigkeit sei es ihm jedoch unmöglich gewesen, der Kommunistischen Partei beizutreten. In der deutschen orthodox‐marxistischen Rezeption des Faschismus wurde diese Moment ausgeklammert. Natürlich spielte auch das Großkapital eine Rolle — einverstanden. Aber man kann Nationalsozialismus nicht verstehen, wenn man die Nazis nicht zugleich auch als Bewegung begreift. Und ich meine, daß eine vom Kapital durchgeführte Umwälzung des gesamten sozialen Gefüges dieser Bewegung zugrunde gelegen hat. “Antikapitalismus” heißt nicht, daß man irgendwo einen Bonzen haßt, sondern es ist der Versuch, eine Welt zu verstehen. Plötzlich war die Währung nichts mehr wert, plötzlich gab es Arbeitslosigkeit und Überproduktion. Die Nazis haben gedacht, sie würden die Welt retten.

Es gab aber kein Spurenelement von Protest oder Widerstand gegen das kapitalistische Wesen in Nazideutschland …

Ich habe weder behauptet, daß die Nationalsozialisten bewußte Antikapitalisten waren, noch daß sich ihre Revolte gegen das Wesen des Kapitalismus gerichtet hat. Sondern ich habe versucht aufzuzeigen, daß diese Revolte gegen Erscheinungsformen des Kapitalismus gerichtet war und daß man ihr Weltbild anhand der Kategorien der Marxschen Kapitalismuskritik erklären kann.

Du sprachst heute Vormittag von Kapitalismuskritik …

… die finde ich nach wie vor aktuell …

… was verstehst Du darunter? In welchen Punkten darf nach Deiner Ansicht die postkapitalistische Gesellschaft hinter Errungenschaften des Liberalismus nicht zurückfallen?

Es gilt, die Umbruchsituation, in der wir uns befinden, zu erklären. Mit dem Marxismus‐ Leninismus muß man brechen, mit der Marxschen Kritik aber nicht. Der Standpunkt der Kritik kann kein räumlicher sein: Es kann nicht das Vaterland aller Werktätigen sein, es kann nicht ein anderer (deutscher) Staat sein, es kann nicht die 3. Welt oder die Armut dort sein. Der Standpunkt der Kritik kann nur zeitlich sein, bezogen auf die Immanenz der kapitalistischen Entwicklung. So verstanden kann der Kapitalbegriff die geschichtliche Lage immer noch wesentlich besser erläutern, als Modernisierungstheorien oder der leere Begriff der Industriegesellschaft, der einfach nur eine Beschreibung ist. Der Kapitalbegriff erfaßt eine dynamische Entwicklung, der Industriebegriff nicht. Um dies zu leisten, muß man einen Kapitalbegriff entwickeln, der sich nicht hauptsächlich auf Formen des 19. Jahrhunderts begrenzt. Im Zentrum dieses Kapitalbegriffs dürfen nicht Markt und Privateigentum stehen, sondern die Form der Arbeit und die Form der Vergesellschaftung. Daran zu arbeiten ist eine große Aufgabe.

Moishe, wir danken Dir für das Gespräch.

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