Moishe Postone zur Theorie des Antisemitismus

Die folgende Zusammenfassung des Postone‐Aufsatzes zum NS‐Antisemitismus habe ich 1992 für die Zeitschrift AK (analyse & kritik) verfasst – Postone hat sie damals gegengelesen und für gut befunden. Sie wurde neben einem Interview veröffentlicht, das damals Mitglieder der Gruppe K mit Postone führten (analyse & kritik Nr. 340, 11. März 1992, S. 4 – 5). Es trug den Titel: „Die deutsche Linke muß anerkennen, nunmehr Opposition in einer Großmacht zu sein“. Das Interview kann nachgelesen werden im Sammelband: Moishe Postone, „Deutschland, die Linke und der Holocaust: politische Interventionen“, Ça ira, 2005 (dort teils falsche Quellenangaben).

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Bereits 1979 veröffentlichte Moishe Postone ein Essay zur Analyse des modernen Antisemitismus (1). Eine Beschäftigung mit jenem Element nationalsozialistischer Realität sei, stellt Postone darin vorweg, Voraussetzung eines adäquaten Herangehens an die deutsche Vergangenheit: „Keine Analyse des Nationalsozialismus, die nicht die Ausrottung des europäischen Judentums erklären kann, wird ihm gerecht.“ Postone kritisiert, in Westdeutschland habe die Linke wie die Rechte Antisemitismus als bloßes Vorurteil definiert, und den Holocaust außerhalb einer sozio‐ökonomischen Analyse des Nationalsozialismus behandelt. Konservativen und Liberalen sei es darum gegangen, mit der Kritik an der Verfolgung der Juden einen angeblich totalen Bruch zwischen dem 3. Reich und der BRD zu betonen, die Linke dagegen habe die Tendenz entwickelt, „den Nationalsozialismus als bloße Spielart des Kapitalismus zu begreifen.“  Die Tatsache, dass sich der Nationalsozialismus in dessen eigener Sprache als „Revolte“ begriff, sei aus einer solchen Reduktion ebenso wenig erklärbar, wie die Haltung „ideologischer Mission“, die bei Nationalsozialisten festzustellen sei , und die sie zu einer Vernichtung der Juden „um der Vernichtung willen“, ohne jede funktionelle Bedeutung, veranlaßt habe.

Postone sieht das linke Ungenügen in einem traditionell reduzierten „Marxismus“ begründet. Er hebt hervor, insbesondere das „Kapital“ dürfe nicht als Analyse einer eigenen, isolierten Sphäre der „Ökonomie“ verstanden werden. Marx suche in Begriffen wie „Ware“, „Wert“ und „Kapital“ ökonomische Zusammenhänge stets als Ausdruck gesellschaftlicher Beziehungen zu definieren, und aus der Verfaßtheit dieser gesellschaftlichen Beziehung werde nach Marx die Entstehung bestimmter Ideologien erklärbar. Marx‘ Begriffe standen demnach stets für die Analyse gesellschaftlicher Wirklichkeit und für erkenntnistheoretische Analyse zugleich. Postone bezieht sich insbesondere auf die Warenanalyse, an der Marx jenen Zusammenhang, der dem ganzen „Kapital“ zugrundeliege, explizit gemacht habe. Marx analysierte, wie im Kapitalismus die in der Ware vorzufindende Einheit von Tauschwert und Gebrauchswert aufgetrennt wird in Geld und Ware. Der Gebrauchswert erscheint nicht mehr als aus Arbeit entstandene gesellschaftliche Kategorie, sondern ausschließlich als dem Ding „Ware“ quasi natürlich anhaftende Eigenschaft. Gleichzeitig stelle sich „das Geld als einziger Ort des Wertes dar, als Manifestation des ganz und gar Abstrakten anstatt als entäußerte Erscheinungsform der Wertseite der Ware selbst.“ Gesellschaftliche Beziehungen treten nur noch im solcherart isolierten „Abstrakten“ in Erscheinung, und auch dort wird ihre gesellschaftliche und historische Bedingtheit verschleiert, indem auch sie z. B. im Geld verdinglicht werden, oder indem ökonomischen Zusammenhängen der Charakter ewiger Naturgesetze zugeschrieben wird. Jene Struktur entfremdeter gesellschaftlicher Beziehung ist dem Kapitalismus eigen, und wurde von Marx auf den Begriff des „Warenfetisch“ gebracht, der, so Postone, „in der Unterscheidung zwischen dem Wesen der kapitalistischen Verhältnisse und ihren Erscheinungsformen gründet.“

Postone untersucht, wie die von Marx analysierten, dem Kapitalismus eigenen falschen Wahrnehmungsformen sich fortentwickelten. Die Antinomie (2) zwischen „Abstraktem“ und „Konkretem“ widmet er sich in der näheren Analyse romantischer Denkweisen, „die ihrem Selbstverständnis nach antibürgerlich sind, in Wirklichkeit jedoch das Konkrete hypostasieren (3) und damit innerhalb der Antinomie gesellschaftlicher Beziehungen verharren.“  Solche Denkformen – die bei Frühsozialisten, Anarchisten und z.B. auch bei Proudhon anzutreffen seien – tendierten dazu, Kapitalismus im isoliert wahrgenommenen Abstrakten abzulehnen, z.B., indem Geld als „Wurzel allen Übels“ begriffen werde. Mit der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert sieht Postone Veränderungen jener Denkformen einhergehen, die auf die wachsende Bedeutung des Kapitals zurückzuführen seien. Kapital sei bei Marx als „selbstverwertender Wert“ charakterisiert, als die „unaufhörliche rastlose Selbstvermehrung des Wertes“, und jenes ihm innewohnende dynamische Element, so Postone, habe in Denkformen des späten 19. Jahrhundert Eingang gefunden. An die Stelle einfacher Dinge oder mechanischer Bilder, in denen der Fetisch ursprünglich wahrgenommen wurde, seien zunehmend organische Prozesse, biologische Hypostasierungen getreten. So könne nun, anstelle der Ware, der ganze materielle Produktionsprozess insgesamt als konkret, „gesund“ und „natürlich“ begriffen werden. Er erscheint als dem übergeordneten organischen Träger, der Gemeinschaft, der Rasse, dem Volk, zugehörig. Demgegenüber werde allein die isolierte abstrakte Seite des Kapitalismus, beispielsweise im Finanz‐ oder Zinskapital, als alleiniger Träger aller negativen Entwicklungen betrachtet.

Postone definiert Antisemitismus als eine besondere Form des so entstandenen „romantischen“ Antikapitalismus, in der auch noch die abstrakte Seite naturalisiert, personalisiert wahrgenommen wird: Im Juden. „Es handelt sich dabei“, betont Postone, „nicht um die bloße Wahrnehmung der Juden als Träger von Geld – wie im traditionellen Antisemitismus: vielmehr werden sie für ökonomische Krisen verantwortlich gemacht und mit gesellschaftlichen Umstrukturierungen und Umbrüchen identifiziert, die mit der raschen Industriealisierung einhergehen: explosive Verstädterung, der Untergang von traditionellen sozialen Klassen und Schichten, das Aufkommen eines großen, in zunehmendem Maße sich organisierenden industriellen Proletariats und so weiter.“ Postone wendet sich damit vehement gegen das weitverbreitete Bild, im Antisemitismus hätten die Nationalsozialisten einer unmodernen, eigentlich dem Feudalismus zuzuordnenden Ideologie angehangen. Die Erklärung des Nationalsozialismus als Revolte gegen die Moderne könne nicht erklären, warum er sich nicht gegen das Industriekapital gewandt habe. Nicht nur „Blut und Boden“, sondern ebenso die Maschine sei durch den NS als „konkret“ und als positiver Ausdruck der Volksgemeinschaft verherrlicht worden.

Seine Thesen sieht Postone in verschiedenen Beobachtungen am Antisemitismus der NS‐Zeit fundiert: Juden wurden nicht als „Untermenschen“ betrachtet, sondern als übermächtige Gefahr. Die Nationalsozialisten gaben der These von der „Weltverschwörung“ der Juden, die systematisch die verschiedensten modernen Entwicklungen determiniere, umfassenden Erklärungscharakter. Auch umschrieben sie die Andersartigkeit der Juden „mit Attributen wie mysteriöse Unfaßbarkeit, Abstraktheit und Allgemeinheit.“

Als eigentliche „deutsche Revolution“, folgert Postone aus seinen Ausführungen, müsse nicht die Machtergreifung von 1933 begriffen werden, sondern die antisemitische Vernichtungspolitik. Auschwitz sei dem Nationalsozialismus die „groteske arische ‚antikapitalistische‘ Negation“  der modernen kapitalistischen Fabrik gewesen. Ist die Fabrik der Ort, der Profit, also Tauschwert, produzieren soll, und der dazu den Umweg über die Produktion von Gebrauchswert zu gehen hat, sollte Auschwitz dem Ziel dienen, das Konkrete vom Abstrakten zu befreien: „Der erste Schritt dazu war die Entmenschlichung, das heißt, die ‚Maske‘ der Menschlichkeit wegzureißen und die Juden als das zu zeigen, was sie ‚wirklich‘ sind: Schatten, Ziffern, Abstraktionen. Der zweite Schritt war dann, diese Abstraktionen auszurotten, sie in Rauch zu verwandeln, jedoch auch zu versuchen, die letzten Reste des konkreten gegenständlichen ‚Gebrauchswerts‘ abzuschöpfen: Kleider, Gold, Haare, Seife.“

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Fußnoten:

[1] Moishe Postone veröffentlichte den Aufsatz „Antisemitismus und Nationalsozialismus“ im Juni 1979 in der Frankfurter StudentInnenzeitung „Diskus“, und in englischer Fassung in „New German Critique“. Der Text erschien in gegenüber „Diskus“ sprachlich leicht veränderter Form auch in „Autonomie“ Nr. 14, Oktober 1979. Der Aufsatz reflektierte in einem ersten Teil die Aufnahme des „Holocaust“-Filmes in der Bundesrepublik, und diskutierte in diesem Kontext Antisemitismus in der BRD. Er enthielt als zweiten Teil Postones theoretischen Erklärungsansatz für modernen Antisemitismus. Dieser zweite Teil des Beitrags – der allein hier in der Folge referiert werden soll – erschien in überarbeiteter Form unter dem Titel „Die Logik des Antisemitismus“ in Merkur Heft 403, 36. Jahrgang, Stuttgart 1982. Diese Textfassung wurde in den von Dan Diner herausgegebenen Sammelband „Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz“, Frankfurt a.M. 1988 übernommen und in der Sondernummer 1991 der Freiburger „Kritik und Krise“ (ISF) erneut dokumentiert. Eine Zusammenfassung des Beitrags und die Diskussion einiger daraus erwachsender Konsequenzen wurde von Bettina Hoeltje im zweiten Reader der Radikalen Linken veröffentlicht“ („Zu einigen Problemen der linken Analyse des deutschen Faschismus“, in: „‘Deutschland? Nie wieder!‘, Kongreß der Radikalen Linken“, Frankfurt a.M. 1990). Die Nullnummer der „Bahama‐News“ (Zirkular der Gruppe K), Mai 91, dokumentierte den Text aus Diskus 1979.

[2] Entgegensetzung, Wahrnehmung als verbindungslosem Gegensatz

[3] hypostasieren: verselbständigen, vergegenständlichen, personifizieren

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Moishe Postone zur Neuinterpretation von Marx
Lesetipps:

Postones umfangreicher Text zur Neuinterpretation von Marx ist 1993 auf Englisch und 2003 auf Deutsch erschienen (ca ira, 616 Seiten, 34 €).
  • Wenn man im Internet mit den Stichworten „Postone ca ira“ zum Buch geht, kann man einige Kapitel einsehen. Es empfehlen sich u.a. die „Abschließenden Betrachtungen“.
  • Noch besser als kurzer Lektüreeinstieg eignen sich einige Seiten der Einleitung, die nicht im Internet steht – ich schicke es auf Wunsch gerne per Mail zu: Berthold.Brunner@hamburg.de

Als Lektüreeinstieg eignet sich aber auch eine Vorarbeit:

Barbara Brick und Moise Postone:

Kritischer Pessimismus und die Grenzen des traditionellen Marxismus

in: Wolfgang Bonß, Axel Honneth (Hrsg.): Sozialforschung als Kritik. Frankfurt am Main 1982

  • Der Text ist im Internet unter den Stichworten „Brick Postone Kritischer Pessimismus“ schnell aufrufbar.
  • Als begrenzte Lektüre eignet sich gut: S. 198 — 215 (Teile IV und V).