Tina April 2019
Heimatfeindschaft und Heimatlosigkeit
Vorbemerkung: Ich versuche hier das Hin und Her in meinem Kopf zu diesem Thema darzulegen und zitiere dazu z.T. sehr ausführlich Leseergebnisse, um Material für die Debatte zur Verfügung zu stellen, das nicht nur aus Halbsatz‐Zitaten oder Anführungsstrich‐Begriffen besteht. Nehmt es also als Problemaufriss und Lesestoff zum Thema. Ich danke Eckehard, Helmut, Jan, Marianne für kritische Durchsicht, Hinweise, Änderungsvorschläge.
Das Wort Heimat gehört nicht zu dem Wortschatz, mit dem ich meinen Wohnort, mein zu Hause, mein Leben, meine Kindheit etc‐tralala beschreibe. Dieses Wort ist und war für mich immer altmodisch‐verstaubt, mit konservativem rechtem Gedankengut verknüpft. Ich würde auch nie sagen, dass ich „eine Heimat habe“, eher ein „zu Hause“. Ich lebe in Deutschland, möchte nicht auswandern, bin Deutsche, zwar in Brasilien geboren, aber in einem deutschen Elternhaus aufgewachsen, bis zum 6. Lebensjahr in São Paulo, dann hin und her zwischen BadenWürttemberg, Bayern, Südbrasilien und Hannover. Deutschsein, daraus kann ich nicht aussteigen und das bedeutet mit diesem Täterland und der eigenen Familie darin etwas zu tun zu haben, diesem Land mit stabilem Antisemitenanteil trotz Auschwitz und einem weiteren Schwung Antisemiten wegen Auschwitz, zwei mörderischen Kriegen, einem Sozialstaat, der sich u.a. durch Kinderarbeit und Hungerlöhne in der 3. Welt billig rechnet, sich durch einen unterbewerteten Euro auf Kosten anderer finanziert, eine brutale Kolonialgeschichte in Afrika hat und dessen Pass Zugang zur ganzen Welt sichert.
Besonders widerlich ist die Gegenüberstellung von Heimatverbundenheit und Wurzellosigkeit, weil sie das antisemitische Denkmuster vom wurzellosen Juden bedient. In dem Zusammenhang ist es politisch extrem sinnvoll und notwendig, das Einsickern von rechtem Gedankengut in die linke Szene, das tatkräftige Demontieren linker Solidarität und Einschwenken in den rechten Diskurs durch ehemals Linke zu attackieren und klarzustellen: es gibt keine Versöhnung mit realpolitischen Positionen, die es „leider leider“ nötig machen, die Grenzen Deutschlands und Europas dicht zu machen. Eine Politik der Ausschließung von Flüchtlingen aus Deutschland – no way.
„Heimat“ emotional und kognitiv aufzuladen mit dem Bild einer homogenen Bevölkerung, zu der man/frau qua Geburt und Aufwachsen gehört, an einem definierten Ort — das ist nicht nur absurd und empirisch idiotisch, sondern auch Verleugnung von Klassendifferenzen und die Eintrittskarte ins Völkische mit sich daraus ableitenden Besitzansprüchen und ggfs. Vertreibung und Mord derer, die angeblich hier nicht hergehören[1]. Und die deutsche Nation als ein „natürliches Kollektiv“ zu verstehen – das ist nicht ohne Ausschluss der Fremden und Sicherung von Privilegien im imperialistischen Kontext zu haben[2].
Kein Dissens. Und: angesichts der schrecklichen Entwicklung in Deutschland den Heimatdiskurs in Texten, Konferenzen, Veranstaltungen (Arbeitskonferenz Bekenntnis zur Heimatlosigkeit am 6./7. Oktober in der Flora (Hamburg)[3], Thomas Ebermann Linke Heimatliebe – Eine Entwurzelung[4] etc.) zu torpedieren, ist gut.
Trotz aller dieser Zustimmung teile ich bestimmte Linien der Argumentation nicht. Mein Dissens bezieht sich auf die Vermischung von Analyse‐Ebenen und auf bestimmte Begründungsstränge, die über die gut begründete politische Kritik an der Heimatdemagogie und der ekelhaften Politik von Vertreibung und Ertrinkenlassen von Menschen hinausgehen. Es geht mir um eine Denke, die suggeriert, wir könnten das Thema von jenseits des Zauns anschauen. Ich glaube, es ist schwieriger. Es geht mir hier um anthropologische Aussagen über den Menschen, die in der Negation von rechten Aussagen über den Menschen – quasi als Spiegelbild – enthalten sind und um die Vermeidung von Aussagen über die Bedingungen menschlicher Sozialisation. Es geht mir darum, jeweils klar zu haben, wovon genau die Rede ist, wenn von „Heimat“, „eine Heimat haben“, „Heimatlosigkeit“ etc. gesprochen wird.
Thorsten Mense schreibt im Vorwort zum Buch von Thomas Ebermann:
Eine fortschrittliche Antwort (Antwort auf das Boomen des Heimatdiskurses, ist hier wohl gemeint — Tina) läge in der Betonung der Differenz, des Mensch‐Werdens durch Ablösung und Widerspruch, der „in der Heimatlosigkeit gewonnenen Freiheit“ (Vilém Flusser). Nicht dafür einzutreten, dass alle eine Heimat haben, sondern dass sie niemand mehr braucht, weil die Verhältnisse vernünftig eingerichtet sind. Heimatlosigkeit ist daher kein Mangel, sie ist ein kosmopolitischer Gegenentwurf zur intellektuellen wie emotionalen Einsperrung auf der Heimatsscholle (ebd.:15).
Hier werden verschiedene Ebenen der Betrachtung vermischt, ohne dass das reflektiert wird: anthropologische Aussagen über die frühe Sozialisation, Aussagen über politische Verhältnisse und psychosoziale Folgen ungesicherter Verhältnisse. Diese Vermischung macht meinen Kopf nicht klar. Ich versuche mal, das aufzudröseln und setze dabei selbst einige anthropologische Eckpunkte.
Ein Satz nach dem anderen:
Eine fortschrittliche Antwort läge in der Betonung der Differenz, des Mensch‐Werdens durch Ablösung und Widerspruch.
Dies scheint mir eine Aussage zur frühen Sozialisation jedes Menschen zu sein, sonst würde ich die Formulierung Mensch‐Werden hier nicht verstehen, die hier offensichtlich nicht im moralischen Sinne gebraucht wird (im Sinne von „menschlich werden“). Es scheint mir eine Aussage zur Wichtigkeit für das Kind, den jungen Menschen, zu sein, seinen engen Umkreis der Primärsozialisation zu verlassen, zu widersprechen, sich zu lösen. Die Verweigerung des Löffels mit Brei ist der Prototyp hierfür. Ablösung und Widerspruch sind zentrale Elemente für das Mensch‐Werden. Klar. Ablösung und das Verlassen des Gewohnten, der Widerspruch gegen das Bekannte ist aber nur als Bewegung von etwas weg zu verstehen; das, wovon man sich wegbewegt, kennzeichnet die Verhältnisse und definiert notwendigerweise den Weg. Und dieses definiert gerade in der Ablösung und dem Verlassenen das Subjekt, das sich da herausbildet. Und: im Kindesalter wird es ein hin‐und‐her zwischen Ausflügen raus und zurück zu einer – wenn es gut läuft – wie auch immer unvollkommenen, konflikthaften, aber einigermaßen gesicherten Beziehung zum erwachsenen Umfeld, örtlich und psychosozial, geben. Wenn dieser Kindheitsaspekt nicht gemeint wäre, würde ich den Satz nicht verstehen.
Aber ist das so, wie ich dieses hier gerade überlege? Muss ich diese Aussage zu einer wie auch immer unvollkommenen, konflikthaften, aber einigermaßen gesicherten Beziehung zum erwachsenen Umfeld zurücknehmen? Es ist ja nicht zu leugnen, dass es haufenweise katastrophale familiäre Bedingungen für Kinder gibt, die alles andere als gesichert sind[5]: Verwahrlosung, Gewalt, Alkoholismus, Missbrauch etc. und Fortsetzung hiervon in der Schule. Und unterhalb dieses Programms kann vermutlich jede/r von autoritären, abwertenden Eltern berichten. Ich bleibe dennoch bei meiner Formulierung; denn ich fasse damit – anthropologisch – die Bedingung des Menschen bei Geburt als existenziell angewiesen auf Versorgung in jeder Beziehung, eingebettet in eine psychosoziale‐körperliche Beziehung[6] und da geht es vom ersten Tag an – mehr oder weniger beschädigt — los mit der Bewegung des raus‐aus‐dem‐Laden‐und‐zurück; das raus gewinnt dann auch – später – ggfs. politische Dimensionen. Theweleit beschreibt in seinem Beitrag auf Kampnagel sehr klar und anschaulich seine Kindheit als „heimatvertriebenes“ Kind und seine kompromisslose Abgrenzung von seinen revanchistischen und antisemitischen Eltern, die ihn aber natürlich mit Essen und Kleidung versorgt hätten, in der Pubertät.
Weiter:
Eine fortschrittliche Antwort läge in der Betonung (…) der „in der Heimatlosigkeit gewonnenen Freiheit“ (Vilém Flusser).
Mit Vilém Flusser sind wir in der Politik und beim Erleben eines erwachsenen Menschen:Ja, er beschreibt die Chancen, der er durch Vertreibung, bzw. seine Flucht gewonnen hat, nennt aber auch die psychische Arbeit, das Grauen hinter sich zu lassen („… sobald es mir einigermaßen gelang, mich von den Gasöfen zu befreien…“[7]). Er beschreibt die Entstehung seiner (ersten) Heimatlosigkeit (durch Flucht und Auswandern nach Brasilien) als entsetzlichen „chirurgischen Eingriff in sein Intimstes“, das „Zerschneiden der Fäden“ durch seine Flucht als tschechischer Jude. Brasilien nach dem Militärputsch zu verlassen, beschreibt er dann als bewussten Akt, sich eine neue Freiheit zu suchen (soweit ich weiß, war er nicht gezwungen, Brasilien wieder zu verlassen; ausführlich s.u.)
Flusser so zu zitieren wie im Text von Thorsten Mense, also die gewonnene Freiheit zu zitieren, ohne den „Zusammenbruch des Universums“, von dem er schreibt, zu erwähnen, geht m.E. nicht; beides gehört zusammen, sonst ist das Lob auf die Heimatlosigkeit nur halbwahr. Zwei weitere Einwände: Ich denke, man kann behaupten — ohne viel Risiko falsch zu liegen — dass viel Glück dazu gehört, in der „Vertreibung eine gute Methode, Mensch im vollen Sinn dieses Wortes zu werden“ erleben zu können[8]: z.B. nicht gefoltert worden zu sein, nicht zu jung zu sein bei der Flucht, aber auch nicht zu alt, soziale Beziehungen zu haben oder schnell zu gewinnen, Bedingungen der Flucht, Unterstützung etc.
Abgesehen davon und damit zurück zum Text von Thorsten Mense: wie ist hier der Zusammenhang zum ersten Teil des Satzes zur frühen Sozialisation zu verstehen? Wenn man die frühe Sozialisation als Psycho‐Biotop mit den Polen von Sicherheit, eingebettet‐eingeschlossen sein des Nestlings und Ausreißen konzipiert, wie ist hier eine (nach Flusser) den Menschen befreiende Vertreibung unterzubringen?
Ich denke, die nächsten Sätze kann ich folgendermaßen zusammenziehen, ohne den Sinn von Thorsten Menses Aussagen zu verfälschen:
Eine fortschrittliche Antwort läge (…) (darin), nicht dafür einzutreten, dass alle eine Heimat haben, sondern dass sie niemand mehr braucht, weil die Verhältnisse vernünftig eingerichtet sind.
In diesen Sätzen steckt in der Umkehrung die Aussage: Alle brauchen eine Heimat, solange die Verhältnisse nicht vernünftig eingerichtet sind. Man müsste hier mal sagen, was in diesem Fall mit „Heimat“ gemeint ist, aber ich lass das mal so stehen. Interessant ist allerdings, dass hier ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen einem Heimatbedarf und schlechten Verhältnissen. Findet sich hier ein Motiv für das Verführerische des rechten Diskurses, ein Trost angesichts der Verhältnisse? Adorno hat in der Auseinandersetzung mit der Idealisierung des Bäuerlichen, des Dörflichen als „ursprünglich“ von einem verlogenen Idyll gesprochen, von einem unwahren Herzenswärmer in Anbetracht von Technisierung der Landwirtschaft, Zerstörung der alten Dörfer etc. (dazu s.u.).
Weiter heißt es bei Thorsten Mense:
Heimatlosigkeit ist daher kein Mangel, sie ist ein kosmopolitischer Gegenentwurf zur intellektuellen wie emotionalen Einsperrung auf der Heimatsscholle.
Die Heimatlosigkeit bei Vilém Flusser oder Jean Améry (zu ihm weiter unten) ist Folge von Vertreibung und existenzieller Bedrohung. Über deren Heimatlosigkeit zu sagen, diese sei „kein Mangel“, würde ich mich nicht trauen; aber vielleicht würden beide dieser Bestimmung ja sogar zustimmen. Hier ist aber deren spezielle Heimatlosigkeit wohl nicht gemeint; es geht hier wohl eher um die Benennung einer politischen Haltung, die wir als Linke einnehmen sollten, einer Haltung, sich im kosmopolitischen Gegenentwurf antinational, antinationalistisch, antivölkisch zu verorten. Dieser Vorschlag ist bedenkenswert. Warum ist es aber nötig, das mit der Heimatlosigkeit Flussers und auch noch mit Aussagen zur Sozialisation zusammenzupacken?
Weiter schreibt Thorsten Mense:
Heimat ist im Kern eine völkische Idee, denn sie verwechselt Menschen mit Bäumen und spricht ihnen einen natürlichen und angestammten Platz in der Welt zu. Aber wer Menschen verwurzelt, entmündigt sie und ordnet sie der Natur und dem Kollektiv unter, macht sie zu SklavInnen der Gerüche und Geschmäcker ihrer Kindheit. [9]
Ein Mensch ist kein Baum. Klar. Zur Baum‐Metapher fällt mir der Spruch ein: „Einen alten Baum verpflanzt man nicht“, der sich auf den Wohnortwechsel alter Menschen bezieht und der für mich angesichts der kurzen Verweildauer von Menschen in Pflegeheimen einiges an Plausibilität hat. 3 Monate nach Einzug ist ein Drittel tot. Es gibt gute Gründe, davon auszugehen, dass nicht nur die miserable Pflege im Heim und der schlechte Gesundheitszustand bei Einzug ins Heim eine Rolle spielt, sondern auch der Verlust der eigenen Wohnung, in der die Handgriffe beim Teekochen und Lichtlöschen eingeübt sind, der Verlust der bekannten Nachbarschaft. Ein vertrauter Ort gekoppelt mit einer psychosozialen Umgebung und der Erfahrung von letzter eigener Wirksamkeit also — deren Entzug den betroffenen Menschen ggfs. im Kern betreffen[10] und den letzten Schub ins Nirwana geben? Und wie ist das bei Beginn des Lebens? Welche Rolle spielen Berechenbarkeit von räumlichen Verhältnissen eingebettet in – wie problematisch auch immer, ja, aber eben gerade darin auch — vertraute psychosoziale Beziehungen für einen Säugling beim Wachsen seiner Psyche, für ein Kleinkind bei den ersten Schritten? Ein Raum – auch bei den Nomaden – muss kein eingezäunter Vorgarten sein, kann auch ein Zelt sein, ein Wohnwagen; der Mensch „muss immer, gleichgültig wo, wohnen“, sagt Flusser[11]. Von da aus sind die Ausflüge ins Unbekannte zu starten, ein permanentes hin und her zwischen vertrautem und unbekanntem Gebiet.
Dass wir Menschen als lebendige Wesen Ergebnis einer materialen Evolution sind, ist erst mal kein Unterschied zum Baum. Beleidigt uns das in unserem Bild von uns selbst? Die Evolutionslehre der Biologie, so unvollkommen sie war, Gefahr lief deterministisch zu sein etc., war immerhin wichtiger Teil der Aufklärung und Herauslösung des Menschen aus der göttlichen Schöpfung. Aber Ausflüge ins Unbekannte zu starten gibt’s beim Baum natürlich nicht, wenn man mal von den Mikrobewegungen von Wurzeln im allerengsten Umfeld absieht (die marschierenden Bäume in Herr der Ringe sind eine Ausnahme).
Wie kriege ich jetzt die Kurve zu „Heimatgefühlen“? Vielleicht so: Das Verführerische des rechten Diskurses liegt zum einen im Andocken an frühen Erfahrungen (aller Menschen?) von räumlicher und psychosozialer Vertrautheit als Bestandteil jeder Sozialisation mit all den sensorischen Dimensionen – Gerüche, Geräusche, Klänge, Klima, Bilder von Landschaften, Orten, Straßen, die erinnert werden, idealisiert und mit einem Eigentumstitel (gehört zu mir) ausgestattet werden; und andererseits am Andocken an der Erfahrung von erzwungener Mobilität durch die Suche nach einem Ort, an dem ich mich im Kapitalismus „verwerten“ lassen kann[12].
Ich referiere im Folgenden Aussagen von drei Menschen zu Heimat[13]. Alle drei sind von den deutschen Nazis vertrieben worden, weil sie Juden waren. Sie sind ziemlich unverdächtig, Heimat rechts zu definieren. Bei allen findet man Formulierungen zum Verlust ihrer Heimat — meistens ohne Anführungsstriche, d.h. vom Verlust des Umfeldes mit all dem, was dazu gehört, Wohnort, Lebensumstände, Menschen. Warum habe ich mich für diese Autoren entschieden, da gäbe es auch andere?[14] Weil ihre Heimat‐kritischen Formulierungen von Thomas Ebermann und Thorsten Mense zustimmend zitiert werden (auf Flusser bin ich über Mense aufmerksam geworden). Und da war ich neugierig, ob ich dem folgen kann, und habe nachgelesen. Zu Adorno kommt hinzu, dass sein Denken für unsere Szene eine wichtige Rolle spielt oder spielen sollte[15]: seine von der Marx’schen Theorie geprägte Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse, seine von Hegel / Marx herkommende Philosophie, die sich zentral mit dem Holocaust und dem Denken von Heidegger, Nazi und Antisemit, auseinandersetzt; seine psychoanalytische Sozialpsychologie zum Autoritären Charakter etc.
Vilém Flusser, geboren 1920 in Prag, floh 1939 – 19‐jährig – nach London, seine gesamte Familie wurde im Holocaust ermordet, er ging mit seiner späteren Frau 1940 nach Brasilien. Nach dem Militärputsch 1972 verließ er Brasilien, ging nach Italien, dann in die Provence/ Frankreich. Er starb 1991 bei einem Autounfall in Tschechien auf der Rückfahrt von Prag nach Deutschland.
Jean Améry, geboren als Hanns Chaim Maier 1912 in Wien, floh 1938 – 26‐jährig — aus Österreich nach Belgien, arbeitete im Untergrund, wurde 1943 von der Gestapo verhaftet, in der Festung Breendonk von der SS gefoltert, 1944 nach Auschwitz deportiert, dann nach Buchenwald, von dort nach Bergen‐Belsen, dort von britischen Truppen befreit. Er nahm sich 1978 in Salzburg das Leben.
Theodor W. Adorno, geboren 1903 in Frankfurt am Main, erhielt 1933 Lehrverbot durch die Nazis, ging 1934 nach Großbritannien (Oxford), emigrierte 1938 in die USA, kehrte 1949 das erste Mal nach Deutschland zurück, wechselte ab da zwischen Deutschland und den USA, kam 1953 endgültig nach Deutschland zurück und lehrte ab da an der Frankfurter Universität. Er starb 1969 in der Schweiz.
Vilém Flusser
Flusser schreibt in einem Aufsatz mit dem Titel „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“:
Gegen meine Gewohnheit und vom Thema “Heimat und Heimatlosigkeit” gelenkt und verleitet, habe ich diesmal vor, das Geheimnis meiner Heimatlosigkeit ein wenig zu lüften. Ich bin gebürtiger Prager, und meine Ahnen scheinen seit über tausend Jahren in der Goldenen Stadt gewohnt zu haben. Ich bin Jude, und der Satz “Nächstes Jahr in Jerusalem” hat mich seit meiner Kindheit begleitet[16]. Ich war jahrzehntelang an dem Versuch, eine brasilianische Kultur aus dem Gemisch von west‐ und osteuropäischen, afrikanischen, ostasiatischen und indianischen Kulturemen zu synthetisieren, beteiligt. Ich wohne in einem provenzalischen Dorf und bin ins Gewebe dieser zeitlosen Siedlung einverleibt worden. Ich bin in der deutschen Kultur erzogen worden und beteilige mich an ihr seit einigen Jahren. Kurz, ich bin heimatlos, weil zu zahlreiche Heimaten in mir lagern[17].
Flusser behandelt das Wort „Heimweh“ am Beispiel seiner Erinnerungen an den tschechischen Lendenbraten. Dieser Braten
erweckt in mir schwer zu analysierende Gefühle, denen das deutsche Wort „Heimweh“ gerecht wird. Der Heimatverlust lüftet dieses Geheimnis, bringt frische Luft in diesen gemütlichen Dunst und erweist ihn als das, was er ist: der Sitz der meisten (vielleicht sogar aller) Vorurteile — jener Urteile, die vor allen bewussten Urteilen getroffen werden (ebd.:18).
Ich fasse das so zusammen: Das „Heimweh“ ist der Sitz der – vielleicht aller – Vorurteile. Der Verlust der Heimat bringt die Chance, das zu erkennen. Er schreibt:
Die Heimat ist zwar kein ewiger Wert, sondern eine Funktion einer spezifischen Technik, aber wer sie verliert, der leidet. Er ist nämlich mit vielen Fasern an seine Heimat gebunden, und die meisten dieser Fasern sind geheim, jenseits seines wachen Bewusstseins. Wenn die Fasern zerreißen oder zerrissen werden, dann erlebt er dies als einen schmerzhaften chirurgischen Eingriff in sein Intimstes. Als ich aus Prag vertrieben wurde (oder den Mut aufgebrachte zu fliehen), durchlebte ich dies als einen Zusammenbruch des Universums; denn ich verfiel dem Fehler, mein Intimstes mit dem Öffentlichen zu verwechseln. Erst als ich unter Schmerzen erkannte, dass mich die nun amputierten Fasern angebunden hatten, wurde ich von jenem seltsamen Schwindel der Befreiung und des Freiseins ergriffen (…). Im London des ersten Kriegsjahres (…) und unter Vorahnungen des kommenden Entsetzens der Menschlichkeit in den Lagern erlebte ich damals die Freiheit. Das Umschlagen der Frage „frei wovon?“ in „frei wozu?“, dieses für die errungene Freiheit charakteristische Umschlagen, hat mich seither in meinen Migrationen wie ein Basso continuo begleitet (ebd.:17).
Zur soziologischen These vom Erlerntsein der unbewussten Gewohnheiten und Regeln der „Beheimateten“, die für den Heimatlosen fremd sind, schreibt er:
Die Soziologen scheinen uns zu belehren, daß die geheimen Codes der Heimat von Fremden (zum Beispiel von Soziologen oder von Heimatlosen) erlernt werden können, da ja die Beheimateten selbst sie zu lernen hatten, was die Initiationsriten bei den sogenannten Primitiven belegen. Daher könnte ein Heimatloser von Heimat zu Heimat wandern und in jede von ihnen einwandern, wenn er nur an seinem Schlüsselbund alle notwendigen Schlüssel zu diesen Heimaten mit sich trägt. Die Wirklichkeit ist anders. Die geheimen Codes der Heimaten sind nicht aus bewußten Regeln, sondern größtenteils aus unbewußten Gewohnheiten gesponnen. Was die Gewohnheit kennzeichnet, ist, daß man sich ihrer nicht bewußt ist. Um in eine Heimat einwandern zu können, muß der Heimatlose zuerst die Geheimcodes bewußt erlernen und dann wieder vergessen. Wird jedoch der Code bewußt, dann erweisen sich seine Regeln nicht als etwas Heiliges, sondern als etwas Banales. Der Einwanderer ist für den Beheimateten noch befremdender, unheimlicher als der Wanderer dort draußen, weil er das dem Beheimateten Heilige als Banales bloßlegt[18].
Flusser sieht gerade in der Tatsache, dass der Heimatlose nicht in die unbewussten Geheimcodes der Heimat verwoben ist, die Chance zur Freiheit und zur Erkenntnis der Vorurteile, die in den Geheimcodes der Beheimateten ihren Ort haben.
Er schreibt, er wolle dem „Ensetzen und Entsetzlichen“[19] der Vertreibung „positive Aspekte“ abgewinnen und provoziert dann mit der These, dass „Vertreibung eine gute Methode (ist), Mensch im vollen Sinne des Wortes zu werden“ [20]. Er entwickelt diese Aussage nach einigen anthropologischen Setzungen:
Der Unterschied zwischen der Pflanzen‐ und der Tierwelt ist (oberflächlich gesehen), dass Tiere nicht gesetzt werden, sondern gelegt oder geworfen. (…) Und Menschen sind außerordentlich unruhige Tiere: (…) Menschen sind womöglich noch wurzelloser als andere Tiere, und wenn sie nach ihren Wurzeln suchen („roots“), dann hat man bei ihnen einen Gemüseeindruck. Verwurzelte, sitzende Menschen (soweit es so etwas tatsächlich und nicht nur ideologischerweise gibt), sind erfahrungsarme Kräuter. Um Mensch im vollen Sinn dieses Wortes zu sein, muss man entsetzt sein. Laut Aristoteles begannen die Leute immer wieder aus dem Entsetzen heraus zu philosophieren. Und da sich die Leute nur selten selbst entsetzen, ist Vertreibung eine gute Methode, Mensch im vollen Sinn dieses Wortes zu werden (ebd.:36).
Ich habe nicht den Eindruck, dass Flusser hier zynisch spricht, er beschreibt immer wieder ausführlich das Entsetzliche im Sinne von Schrecklichem. Er setzt aber — und wird hierbei ironisch, wenn er über das Gemüseähnliche der Beheimateten schreibt — dass Vertreibung für den Migranten eine Chance zur Freiheit bietet.
Ein letztes Zitat, in dem er seine Enttäuschung über die Entwicklung in Brasilien (Herausbildung von Patriotismus in den 60er Jahren) beschreibt und dann programmatisch feststellt:
Die Enttäuschung mit Brasilien war die Entdeckung, dass jede Heimat, sei man in sie durch Geburt geworfen, sei man an ihrer Synthese engagiert, nichts ist Sakralisation von Banalem; dass Heimat, sei sie wie immer geartet, nichts ist als eine von Geheimnissen umwobene Wohnung. Und dass man, wenn man die in Leiden erworbene Freiheit der Heimatlosigkeit erhalten will, ablehnen muss, an dieser Mystifikation von Gewohnheiten teilzunehmen (1994; 2013:26).
Jean Améry
Améry stellt die Frage: „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“ [21]. In diesem Aufsatz schickt er voraus, dass er die Frage „aus der sehr spezifischen Situation des aus dem Dritten Reich Exilierten“ heraus stelle. Deshalb werde, „was ich dabei herausfinden kann, (…) wenig allgemeine Gültigkeit haben“ (ebd.:83). Er unterscheidet seine Erfahrung von derjenigen, „die aus ihren im Osten gelegenen Heimatländern vertrieben wurden“; diese hätten „ihren Besitz, (…) dazu das Land, Wiesen und Hügel, (…) die Kirche“ verloren. Die Exilierten hätten das alles auch verloren, dazu aber auch die Menschen — diese seien Denunzianten und Schläger geworden — und ihre Sprache. Ihr Exil sei auch nicht vergleichbar mit dem derjenigen, die „ausschließlich ihrer Gesinnung wegen dem Dritten Reich entwichen“ (ebd.:84).
Nachdem er Sartre beschrieben hat als einen „Vollfranzosen“, der sich aus seiner „Heimatverwurzelung“ „stolz und männlich löste“ – im Gegensatz zum „halbjüdischen österreichischen Emigranten (André) Gorz“, bei dem ein „hektisches Suchen nach Identität“ festzustellen sei, „hinter dem nichts anderes steckt als das Verlangen nach gerade jener Heimatverwurzelung“ (ebd.:90), zieht er den Schluss:
Man muss Heimat haben, um sie nicht nötig zu haben, so wie man im Denken das Feld formaler Logik besitzen muss, um darüber hinauszuschreiten in fruchtbarere Gebiete des Geistes (ebd.: 90).
Damit macht Améry Heimat zu einer zentraler Dimension des Menschen. Er definiert dann deutlich, was die ihm „so unerlässlich erscheinende Heimat überhaupt bedeutet“, in Abgrenzung von „althergebrachten, romantisch klischierten Vorstellungen“:
Heimat ist, reduziert auf den positivpsychologischen Grundgehalt des Begriffs, Sicherheit. Denke ich zurück an die ersten Tage des Exils in Antwerpen, dann bleibt mir die Erinnerung eines Torkelns auf schwankendem Boden. (…) Heimat ist Sicherheit, sage ich. In der Heimat beherrschen wir souverän die Dialektik von Kennen‐Erkennen, von Trauen‐Vertrauen: da wir sie kennen, erkennen wir sie und getrauen uns zu sprechen und zu handeln (…) Sicher aber fühlt man sich dort, wo nichts Ungefähres zu erwarten, nichts ganz und gar Fremdes zu fürchten ist. (…) Das kann zur Verödung und zum geistigen Verwelken im Provinzialismus führen, wenn man nur die Heimat kennt und sonst nichts. Hat man aber keine Heimat, verfällt man der Ordnungslosigkeit, Verstörung, Zerfahrenheit (ebd.: 90 – 92, Hervorhebung durch den Autor).
Améry beschreibt – hier ähnlich wie Flusser -, dass für den Exilierten, der als Erwachsener „ins neue Land kam“, „der Durchblick durch die Zeichen nicht spontan“ sei, „vielmehr ein intellektueller mit einem gewissen geistigen Müheaufwand verbundener Akt“. Denn:
Nur jene Signale, die wir sehr früh aufnahmen, deren Deutung wir zugleich mit der Besitzergreifung der Außenwelt erlernten, werden zu Konstitutionselementen und Konstanten unserer Persönlichkeit: So wie man die Muttersprache erlernt, ohne ihre Grammatik zu kennen, so erfährt man die heimische Umwelt. Muttersprache und Heimatwelt wachsen mit uns, wachsen in uns hinein und werden so zur Vertrautheit, die uns Sicherheit verbürgt. (…) Die Heimat ist das Kindheits‐ und Jugendland. Wer sie verloren hat, bleibt ein Verlorener, und habe er es auch gelernt, in der Fremde nicht mehr wie betrunken umherzutaumeln, sondern mit einiger Furchtlosigkeit den Fuß auf den Boden zu setzen (ebd.:92 – 94).
Diese Formulierungen beinhalten anthropologische Annahmen über die Sozialisation von Menschen, über das Erlernen von Sprachen, über den Zusammenhang zwischen Sprache und dem Ort des Aufwachsen/Lebens. Améry spitzt die Abhängigkeit der eigenen Identität vom Urteil der Herkunftsgesellschaft zu, indem er schreibt:
Um dieser oder jener zu sein, brauchen wir das Einverständnis der Gesellschaft. Wenn aber die Gesellschaft widerruft, dass wir es jemals waren, sind wir es auch nie gewesen (ebd.:112).
Indirekt spricht er an, dass es biografisch einen Unterschied macht, in welchem Alter eine Person vertrieben / im Exil aufgenommen wird:
Es altert sich schlecht im Exil. Denn der Mensch braucht Heimat. Wie viel? Das war natürlich keine echte Frage, nur eine Titelformulierung, über deren Geglücktheit man streiten kann. (…) Er braucht viel Heimat, mehr jedenfalls, als eine Welt von Beheimateten, deren ganzer Stolz ein kosmopolitische Ferienspaß ist, sich träumen lässt (ebd.:112).
Améry thematisiert – wie Flusser – durchaus einen Gewinn der Heimatlosigkeit, aber nicht ohne im nächsten Atemzug den erlittenen Verlust zu benennen – und hierin unterscheidet er sich von Flusser deutlich:
Freilich, nur ungern lasse ich mich für einen verspäteten Nachzügler der Blut‐und Boden‐Armee halten, und darum will ich deutlich aussprechen, daß ich mir auch der Bereicherungen und Chancen, welche die Heimatlosigkeit uns bot, wohl bewusst bin. Die Öffnung auf die Welt hin, die die Emigration uns gab — ich weiß sie mir zu schätzen. (…) Ich habe 27 Jahre Exil hinter mir, und meine geistigen Landsleute sind Proust, Sartre, Beckett. Nur bin ich immer noch überzeugt, daß man Landsleute in Dorf‐ und Stadtstraßen haben muss, wenn man der geistigen ganz froh werden soll, und daß ein kultureller Internationalismus nur im Erdreich nationaler Sicherheit recht gedeiht (ebd.:89 – 90).
Und zu Proust, Joyce, Roth schreibt er:
Was aber wäre Joyce ohne Dublin, Joseph Roth ohne Wien, Proust ohne Illiers? (ebd.:93)
Gute Literatur nur als „vorOrtTexte“? Eine notwendige Bedingung für Qualität, aber keine hinreichende, kann auch Kitsch dabei rauskommen, meistens vermutlich. Aber: Was wäre Kafka ohne Prag, möchte ich ergänzen[22].
Améry hätte den Formulierungen von Flusser über das Befreiende der Vertreibung, („Für eine Philosophie der Emigration“) wohl so nicht zugestimmt. Ist nun seine positive Bezugnahme auf Heimat im Sinne seiner Definition in der Gefahr einer positiven Bezugnahme auf die Idee des „Völkischen“? Wenn ich die Texte Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein (ebd.:145 – 173) und Ressentiments (ebd.:114 – 144) lesesowie seine Nähe zu Sartre bedenke, neige ich dazu, das zu verneinen.
Trotzdem formuliert er Positionen, die ich politisch problematisch finde: keine Kritik am Nationenkonzept, positiver Bezug auf ein Recht Deutschlands auf Wiedervereinigung und „territoriale Forderungen (…) im Kampfe für die Wiedervereinigung mit dem von ihm unnatürlich abgetrennten und unter fremder Gewaltherrschaft leidenden Teil seines Nationalkörpers“ (ebd.:115)[23]. „Gewaltherrschaft“ geht ja noch gerade durch, aber „unnatürlich abgetrennter Teil des Nationalkörpers“? Da ist „Wir sind ein Volk“ leider nicht weit. Besteht nun aber ein zwingender Zusammenhang zwischen solchen schrecklichen Formulierungen und Amérys Heimat‐Begriff? Ich neige dazu, das zu verneinen, kenne aber nicht sein Gesamtwerk. Politische Positionen sind für mich nicht systematisch verknüpft mit einer – eher sozialpsychologischen — Heimat‐Definition, wie sie Améry formuliert. Aber das ist wohl eine Differenz zu Mense und Ebermann.
Eine Anmerkung noch zur Art und Weise der Rezeption von Améry oder besser der Verwendung für die eigene Argumentation bei Mense und Ebermann: Während Mense in seinem Vorwort zu Ebermann – ich sage mal: interessengeleitet — lediglich Amérys Formulierung zitiert: „Links ist da, wo keine Heimat ist“ [24], notiert Ebermann, dass „die Reflexionen Jean Amérys (‚Wieviel Heimat braucht der Mensch‘) in dieser Arbeit unberücksichtigt bleiben, weil ich über diese noch einige Zeit brüten möchte“ (ebd.:77).
Theodor W. Adorno
Etwas zu Adornos Heimatbegriff zu schreiben ist aus (mindestens) drei Gründen schwierig: Erstens: Adorno hat – wenn ich das richtig sehe — keinen Text geschrieben, der sich ausdrücklich mit dem Heimatbegriff beschäftigt. Allerdings benutzt er den Begriff „Heimat“ durchaus und es tauchen vor allem in seiner Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und Ontologie, der Philosophie Heideggers, Begriffe auf, die zum Bedeutungsfeld der „Heimat“ gehören – Wurzeln, Wurzellosigkeit, Boden, Bodenlosigkeit, heiles Leben, Schwarzwald, Acker, Rehbraten etc. Zweitens: Der Unterschied zu den Texten von Flusser und Améry besteht darin, dass Adorno, soweit ich das sehe, keine anthropologischen Annahmen über „den Menschen“ formuliert. Wo Flusser den Menschen ausdrücklich als „geworfenes Tier“ beschreibt und Améry das Aufwachsen an Ort und Stelle und in der Sprache (von Ort und Stelle) ausdrücklich als Bedingung von Sozialisation, finde ich solche Aussagen bei Adorno nicht. Drittens: Die Sprache von Adorno ist kompliziert, weil sie Instrument und Durchführung der frühen Kritischen Theorie ist.
Insofern macht es wenig Sinn, die Ansätze zu vergleichen. Beim Lesen meiner Adorno‐Bücher und Stöbern im Internet unter den Stichworten Adorno und Heimat, finden sich eine ganze Reihe von Texten, die das Bedeutungsfeld „Heimat“ tangieren. Das Folgende sind Überlegungen zu solchen Textstellen; zunächst aus Briefen Adornos, dann aus Minima Moralia, der Sammlung von Reflexionen aus dem beschädigten Leben, weiter aus seinen Vorlesungen zur Philosophischen Terminologie, dann aus seinen philosophischen Hauptwerken. Das ist ein Weg von privaten Bemerkungen in die Öffentlichkeit des philosophisch‐politischen Streits.
Adorno an Siegfried Kracauer, Frankfurt, 17. Oktober 1950:
… dem alten auch Dir vertrauten Amorbach[25], wo wir ein paar reichlich verspätete Ferientage verbrachten und wo so wenig sich verändert hat, daß ich zum ersten Mal wirklich etwas wie ein Gefühl von Heimat hatte, so weit es so etwas überhaupt noch gibt und geben darf[26].
1944 beschrieb er im Exil in den USA die Straßen als trostlos:
nWie sie keine Geh‐ und Räderspuren kennen, keine weichen Fußwege an ihrem Rande entlang als Übergang zur Vegetation, keine Seitenpfade ins Tal hinunter, so entraten sie des Milden, Sänftigenden, Uneckigen von Dingen, an denen Hände oder deren unmittelbare Werkzeuge das ihre getan haben. Es ist, als wäre niemand der Landschaft übers Haar gefahren, sie ist ungetröstet und trostlos“[27].
Autos, Maschinen, Reklame, Jazz[28] zerstören das Alte und Tröstliche. Er hat sich im Exil auch an den deutschen Rehbraten erinnert. In Minima Moralia schreibt er:
In der Erinnerung der Emigration schmeckt jeder deutsche Rehbraten, als wäre er vom Freischütz erlegt worden (ebd.:56).
In diesem (selbst)ironischen Satz scheint mir exemplarisch deutlich, wie Adorno mit der Romantisierung von „früher“ umgeht. Die Ebene der Politik, der Verhältnisse ist bei ihm immer mit dabei. Zwei Dinge werden aus der Perspektive des Exils zum Thema: der Verlust einer leckeren deutschen Speise[29] und die Kritik an der Idealisierung des Vermissten durch nationalistische Überhöhung – der Freischütz — deutsches Jägertum in der ersten deutschen Nationaloper – endlich Schluss mit den seichten italienischen Opern! Hier dockt nationalistische Überhöhung und Gewalt an.
Das Motiv der Erinnerung an die Kindheit, an früher, ist Thema bei Adorno; in der Idyllisierung der Erinnerungen sieht er das Unwahre. Das Unzeitgemäße, Anachronistische dessen, woran ich mich gerne erinnere, muss das Idyll zu Kitsch zerschreddern. Und der Gedanke an das, was da geschah – in der geliebten Gegend, unter den Menschen von damals, in NaziDeutschland – das ist das, was das Idyll zerstören muss. Das scheint mir auch die Reflexion seines eigenen Heimatgefühls zu sein, wenn er an Kracauer schreibt: „… ein Gefühl von Heimat hatte, so weit es so etwas überhaupt noch gibt und geben darf“. Dennoch scheut er sich nicht, dieses Gefühl zu benennen. Er hat, so mein Eindruck, kein Problem mit Gefühlen der Sehnsucht nach Geborgenheit, nach dem alten bekannten Dorf etc., greift aber die Verwurstung solcher Gefühle vor dem Hintergrund der geschichtlichen Entwicklung und in der Philosophie Heideggers frontal an. So schreibt er in Ontologie und Dialektik (Vorlesung in 1961):
Wer hätte nicht gern im Wald eine Lichtung? Oder die Heimat: wer, besonders wenn er wie unsereiner in der Emigration gewesen ist, käme nicht gern in seine Heimat zurück? [30]
Adorno zeigt dann aber weiter, dass Heidegger mit diffusen Begriffen wie Geborgenheit, Lichtung, Ursprünglichkeit, Eigentlichkeit etc. unter Verleugnung und in Affirmation gesellschaftlicher Verhältnisse — Entfremdung, Vertreibung, Mord philosophischen Müll produziert hat; er nennt die Nähe des Ackers, des Landmanns, des Schwarzwaldes zum Antisemitismus. Und er macht sich lustig über schlechte Heimatlyrik, über
„Gegenden, wo Nietzsche und die Aufklärung noch nicht sich herumsprachen, oder sittige Zustände, in denen die Mädchen ihre Kränzlein bis zur Ehe festhalten“[31].
Trotz Kritik und Ironie schreibt Adorno, man komme über „Formulierungen von Heidegger (nicht) hinaus, wenn man einfach gegen sie polemisiert“, sondern müsse „versuchen, das Bedürfnis zu bestimmen oder die Wahrheit zu bestimmen, die darin stecken“: [32]
Ich möchte aber, um auch nicht ungerecht zu werden, noch einmal wiederholen, daß in dem Protest gegen die technische Zivilisation, der in solchen Dingen sich ausspricht, natürlich immer auch ein Moment der Wahrheit ist, und ich wäre der letzte, die Sehnsucht, die noch in diesem philosophischen Kitsch sich niederschlägt, zu schmähen. Nur, die Falschmünzerei beginnt in der Umwertung dieser Sehnsucht so, daß sie einmal nach rückwärts in ein Unerreichbares und in ein Unwiederbringliches gestaut wird und daß zum andern ein Idealbild dabei entworfen wird, das eigentlich gar nicht gemeint ist, weil es in Wirklichkeit lediglich um eine Art von Zuschmücken der unaufhaltsam fortschreitenden Realität geht (ebd.: 158 – 159).
Hier scheint ein kleiner – laienhafter — Ausflug in die philosophischen Kategorien der Kritischen Theorie sinnvoll: Jede Bestimmung ist Negation. Jede Definition eines Dings, Begriffs ist gleichzeitig die Bestimmung dessen, was das Ding, der Begriff nicht ist. Das Gebiet jenseits der Grenzen oder Ränder des Dings oder Begriffs ist definiert durch das Andere und – dramatisiert gesprochen und meine Formulierung — Feindesland. Damit verweist die eine Seite des Dualismus stets auf die andere. Im Feld des Sozialen sind diese Dualismen stets mit Auf‐/Abwertung und Dominanz/Unterordnung verbunden. Eine Frau ist kein Mann, ein Mann keine Frau. Die Kritik an dem diesbezüglichen Ausschlussverfahren ist inzwischen bereits im Rechtssystem angekommen. One drop black blood – schwarz‐weiß‐Rassismus. In Adornos schwieriger Sprache heißt es:
Weil nichts Seiendes[33] ist, das nicht, indem es bestimmt wird und sich selbst bestimmt, eines anderen bedürfte, das nicht es selber ist — denn durch es selbst allein wäre es nicht zu bestimmen -, weist es über sich hinaus. Vermittlung ist dafür lediglich ein anderes Wort (1970; 2003:109)[34].
Das „nicht das da“, die Negation in der Bestimmung eines Seienden hat einen Inhalt, nämlich das, was verneint wird. Das ist keine leere Negation, sondern die bestimmte Negation, Dreh‐ und Angelpunkt der Philosophie Adornos. Nun verwendet Adorno diese Dekonstruktion von Dualismus auch auf das Begriffspaar wahr‐falsch, was eine echte Herausforderung für das Denken ist[35]. Adorno spricht im Gespräch mit Bloch von der Utopie, die in der bestimmten Negation des Falschen stecke:
Die Utopie steckt jedenfalls wesentlich in der bestimmten Negation, in der bestimmten Negation dessen, was bloß ist. Und daß dadurch, daß es sich als ein Falsches konkretisiert, immer zugleich hinweist auf das, was sein soll[36].
Beispiel: Das Moment an Wahrheit, das die verkitschte Sehnsucht nach den Zeiten vor der technischen Zivilisation enthält und auf Utopisches verweist; das Moment an Unwahrheit im Lob der Heimatlosigkeit, wenn diese nicht den ggfs. zu zahlenden Preis hierfür nennt. Das Dilemma zwischen dem Heimatgefühl, der sehnsüchtigen Erinnerung an die Verhältnisse früher einerseits und der kritischen Reflexion andererseits („so weit es so etwas überhaupt noch gibt und geben darf“) ist für Adorno, so mein Eindruck, kein Dilemma, das sich – grob gesagt – einfach durch Abschaffung, leere Negation, Verleugnung des Gefühls erledigen ließe. Im Gegenteil. Im „Glück, das durch den Fortschritt der Geschichte verloren gegangen ist“ sieht er sogar ein Motiv für das Nichteinverstandensein mit den Verhältnissen, wie sie sind, und der Veränderung. Der Text im Ganzen: 1957 schreibt er an Horkheimer:
… in allen Bewegungen, welche die Welt verändern möchten, ist immer etwas Altertümliches, Zurückgebliebenes, Anachronistisches. Das Maß dessen, was ersehnt wird, ist immer bis zu einem gewissen Grade Glück, das durch den Fortschritt der Geschichte verloren gegangen ist. Wer sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet, ist immer auch ganz angepaßt, und will es darum nicht anders haben. Durch dies anachronistische Element ist aber zugleich auch der Versuch der Veränderung selber, eben weil er hinter den Verhältnissen eben so viel zurück wie ihnen voraus ist, immer auch aufs Schwerste gefährdet, und setzt sich bei denen, die es am wenigsten nötig haben, dem Vorwurf aus, reaktionär zu sein. So etwa wie Schelsky von uns sagt, unsere Vorstellungen seien eigentlich die des Hochliberalismus. Sie wissen ja auch, wem Herr Kux vorwirft, er sei ein ‚Romantiker‘, und man würde sich schon in eine hoffnungslose Situation begeben, wenn man das einfach bestritte, sondern gerade die Wahrheit dieses Moments ist in die Theorie aufzunehmen. Es läge alles daran, aus diesem Zirkel herauszukommen, und dazu gehört freilich zuerst, daß man ihn selber ganz ernst nimmt. Das wäre so ein Stück Geschichtsphilosophie[37].
Mal kühn interpretiert: „Wer sich ganz auf der Höhe der Zeit befindet, ist … ganz angepaßt, und will es darum nicht anders haben“ – das sind die, die keinen Verlust empfinden oder erlebt haben und die nichts ändern wollen, weil sie keine Utopie haben, wie es besser sein könnte, weil sie sich nicht an das Glück erinnern, was verloren gegangen ist. Und Adorno schreibt weiter, der Versuch einer Veränderung setze sich — durch dies anachronistische Element – Erinnerung an das Verlorene — immer „dem Vorwurf aus, reaktionär zu sein“. Ein für uns interessanter Gedanke?
Schluss
1966 beschrieb Jean Améry schonungslos, nicht zur Versöhnung aufgelegt und nachtragend, wie er es selber nennt, die Verweigerung der Deutschen, sich ihrem Einverständnis mit den Nazis zu stellen[38]. Trotz dieser Einschätzung und nachhaltigem Misstrauen kam er dann – Mitte der 60er Jahre — zur Einschätzung, dass die glücklichen Deutschen nichts wissen wollen von nationalen Demagogen und Agitatoren (s.o.). Diese Einschätzung muss als widerlegt gelten. Man kann nun die Frage stellen, ob es angesichts der politischen Rechtsentwicklung überhaupt angebracht oder eher unklug ist, alle die hier von mir referierten differenzierten Überlegungen zum Heimatbegriff derzeit anzustellen. Ich finde es nicht unklug, sondern wichtig.
Die Abgrenzung von einer rassistischen und mörderischen Verwendung des Heimatbegriffs ist nötig und unter uns nicht schwer. Damit sind wir zwar gesellschaftlich in der Minderheit, uns aber einig. Wir sind damit aber denkungstechnisch nur scheinbar auf der sicheren Seite, also auf der anderen Seite des Zauns. Denn: Die Begriffe Heimatfeindschaft und Heimatlosigkeit enthalten als Negationen das, was sie negieren. Und das ist keine Spielerei mit Begriffen. Solange in diesen agitatorischen Begriffen der Inhalt des Bestandteils „Heimat“, den man anfeinden oder von denen man sich lossagen soll/will, nicht geklärt wird, schillert alles das mit, was Identität, Sozialisation, Orte des Aufwachsens etcpp. betrifft. Und bezogen auf all dies finden sich überwiegend, so scheint mir, Abwehrbewegungen in Linke Heimatliebe. Eine Entwurzelung.
Die Setzung von Thorsten Mense „Heimatlosigkeit ist ein kosmopolitischer Gegenentwurf“ scheint mir eine solche Abwehrbewegung zu sein. Dagegen setze ich — wie oben bereits geschehen:Deutschsein, daraus kann ich nicht aussteigen und das bedeutet mit diesem Täterland und der eigenen Familie darin etwas zu tun zu haben. Wenn ich mich kosmopolitisch positioniere – im Sinne von antinational, antinationalistisch, antivölkisch – dann bin ich eine deutsche Kosmopolitin, die sich in der nationalen Herkunft unterscheiden wird von einer französischen oder gar von einer jüdischen. Oder?
„Ob man es will oder nicht, ein jeder ist durch Sprache, Geschichte, Kultur und Sitten national geprägt“ – Thomas Ebermann zitiert hier Guillaume Paoli (der gegen offene Grenzen sei) und greift diesen Satz an: damit sei „Marx‘ Diktum, nachdem das Proletariat kein Vaterland habe… irreales Wunschdenken“ (ebd.:69). Das geht mir nicht in den Kopf. Wenn in diesem Satz mit Prägung die Geschichte mit der Graugans gemeint ist, die ggfs. ein Postauto lebenslang für ihre Mama hält, nur weil das zum entscheidenden Moment das erste und einzige bewegte Objekt in ihrem Blickfeld war, dann ist der kritisierte Satz einfach blöde. Wenn man das Wort geprägt – was näher liegt — als beeinflusst liest, finde ich den Satz überhaupt nicht falsch. Und in diesem Sinne ist m.E. jedes nationale – deutsche, englische, schottische … — Proletariat durch Sprache, Geschichte, Kultur und Sitten national beeinflusstund muss erst durch intellektuelle Auseinandersetzung und politische Bildung eine Internationalität entwickeln, sich also weigern, die eigene „Nationalität relevant zu finden“ (die es offenbar nach dieser Formulierung von Ebermann (ebd.:69)[39] eben ja auch hat! Wo ist das Problem dieser Aussage?
Eine Politik der Ausschließung von Flüchtlingen aus Deutschland – no way. Auf Veränderungen der deutschen Gesellschaft im Sinne eines Abbaus von hartnäckigen Resten von 68er‐Dispositiven (Frauenrechte, eingegrenzte Rolle der Kirchen, Schwule…) im Falle einer Öffnung von Grenzen hinzuweisen, hat seine materielle Seite vermutlich auch im kulturellen Gepäck von Flüchtlingen (Frauenrechte, Religion, Schwule…). Daraus aber Argumente für Abschottung zu gewinnen geht nicht. Das ist ein realpolitisches Dilemma, für das ich keine Lösung habe und dem gegenüber man „demonstrativ ‚verantwortungslos‘“ ist, wie Thomas Ebermann richtig schreibt[40].
Warum aber dieser Heimat‐Diskurs für die Rassisten und Nazis so extrem ertragreich ist und geeignet, die Grenzen zwischen denen und (im weitesten Sinne) uns aufzuweichen, hängt vermutlich mit dem zusammen, was Adorno Herzenswärmer nennt, damit, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse das Bedürfnis nach einem nicht gefährdeten Ort permanent beleidigen. Dieses Bedürfnis nach einem solchen Ort angesichts von Zukunftsunsicherheit, Altersarmut, Klassendiskriminierung, Folgen des Klimawandels, der Wanderung unheimlicher Heimatloser selbst anzugreifen, scheint mir weder faktisch richtig, noch besonders geeignet, Leute zu überzeugen und für eine derart schwer zu vermittelnde Forderung nach offenen Grenzen zu werben. Aber vermutlich haben wir, was das angeht, eh wenig Chancen.
Anhang:
Eine längere Textpassage aus der Philosophischen Terminologie Band 1 zur Zerstörung von Lebensformen durch den kapitalistischen Industrialisierungsprozess (auf dem Land), zur Idyllisierung im versöhnlichen Glanz des Vergangenen, zur Verlogenheit und Komik des Lobs der einfachen Verhältnisse und Adornos Methode, die Wahrheit zu bestimmen, die im Gerede darüber dennoch steckt:
Die Komik
liegt darin, daß die Verhältnisse als substantielle und verbindlich dargestellt werden, die zwar hie und da noch überleben mögen in der Welt, in der wir selbst existieren, die aber gleichsam nur von Gnaden der Duldung des Industrialisierungsprozesses so leben, (…) Das ist eine innere Vergänglichkeit, Vergangenheit; der realen Substanz des gegenwärtigen Lebens, nämlich der realen Selbsterhaltung der Menschheit, und den Prozessen, in denen wir alle uns am Leben erhalten, sind diese Formen gar nicht mehr angemessen. In Wirklichkeit ist das, was hier mit diesem ungeheuren Anspruch auf Substantialität auftritt, in einem höheren Sinn Sommerfrische – nicht nur für die Städter, sondern sogar für die Menschen, die so leben und deren eigene Lebensform, wenn die Produktivkräfte nicht gefesselt wären, / durch andere Lebensformen ohne weiteres ersetzt werden könnten. Diese Disproportion verschafft objektiv dem Lob der einfachen Verhältnisse ein Moment der Verlogenheit. (…) Der geschichtliche Prozeß, durch den diese Verhältnisse objektiv überholt sind, bedeutet eben auch zugleich, daß der Rekurs auf sie als auf das Wahre und als das Substantielle selbst das Moment der Unwahrheit hat. / (…) ich wäre der letzte zu leugnen, daß in dem gegenwärtigen Stadium der Industrialisierung gewissen kleinstädtische oder bäuerliche Verhältnisse gerade deshalb, weil sie zum Tode verurteilt sind, eine Art von versöhnlichem Glanz bekommen und daß Sehnsucht an sie sich heftet.
Man kommt nicht über diese Formulierungen von Heidegger hinaus, wenn man einfach gegen sie polemisiert; man muß zunächst einmal auch hier, wie ich es immer zu tun pflege in solchen Betrachtungen, versuchen, das Bedürfnis zu bestimmen oder die Wahrheit zu bestimmen, die darin stecken. Es wäre genauso armselig und engherzig, wenn man nun die Freude an Wertheim oder Amorbach damit verwehren wollte, daß Amorbach gegenüber Chicago und Manhattan ein Anachronismus ist, wie es auf der anderen Seite verlogen wäre, wenn man der Welt, in der wir leben, Amorbach und Wertheim als Ideal vorhalten wollte. Aber, und ich glaube, damit kommt man nämlich zu dem Tiefsten, das eigentlich Verlogene dieser Ursprungsfrage und dieser Ursprungsrede liegt darin, daß es bei ihr in Wirklichkeit gar nicht mehr darum geht, (…) daß der industriellen Zivilisation das Wunschbild dieses Lebens entgegengehalten wird. Es wird in diesem Zusammenhang gar nicht mehr ernsthaft an die Realisierbarkeit dieses sogenannten Ideales geglaubt, sondern je mehr gerade die Macht der Naturbeherrschung und der innergesellschaftlichen Herrschaftsformen, in denen die Naturbeherrschung sich vollendet, fortschreitet, um so mehr wird dieser Fortschritt dann gewissermaßen kontrapunktiert von einem solchen Kultus des einfachen, ursprünglichen, schlichten Lebens. Wenn Sie unter diesem Aspekt an den Nationalsozialismus denken, so sind nicht etwa im Nationalsozialismus tatsächlich irgend so etwas wie / kleinbäuerliche oder kleinbürgerliche Verhältnisse wieder hergestellt worden, als ob auch nur irgendeiner das im Ernst gesucht hätte; im Gegenteil, vielmehr hat der Nationalsozialismus mit einer ungeheuren Gewalt und Geschwindigkeit gewisse Prozesse der kapitalistischen Konzentration und der Technisierung nachgeholt, die auf dem Weg des laisser‐faire‐Prinzips der bürgerlichen Gesellschaft in dieser Weise gar nicht sich hätten durchsetzen lassen. Und nur komplementär dazu, (…), ist die ganze Lehre von Blut und Boden ausgeheckt worden; damit man das richtig versteht, muss man dazu die Welt der Autobahnen denken, von denen aus man im Grund jene Dörfer und jene Tupfer‐Sepp‐Bauern, um die es sich bei Heidegger handelt, überhaupt gar nicht mehr sehen kann. Es handelt sich hier gar nicht um ein Ideal, sondern wirklich nur noch um Herzenswärmer, die nun aber deshalb hier besonders fatal sind, weil sie nicht einfach im Bereich des Kulturkonsums minderer Grade bleiben, sondern sich womöglich selber noch geben, als ob sie dem Betrieb der Kulturindustrie entgegengesetzt wären und ihr das Andere entgegenstellen würden. In Wahrheit sind sie aber ihrer Funktion nach ein Stück Kulturindustrie, (…)[41]
Fußnoten
[1] Klaus Theweleit ist hierzu großartig: auf dem Internationalen Sommerfestival „Heimatphantasien“ auf Kampnagel HEIMATPHANTASIEN = MÄNNERPHANTASIEN: DIE MÄNNLICHE NATION? https://www.kampnagel.de/de/programm/2-konferenz/?id_datum=6965
[2] Es könnte sein, dass man „Nation“ außerhalb der reichen Welt politisch anders sehen sollte/könnte; aber auch da sicher nicht als „Volkskörper“.
[3] https://:www.Heimatfeindschaft.de
[3] https://:www.Heimatfeindschaft.de
[4] Thomas Ebermann (2019): Linke Heimatliebe. Eine Entwurzelung. Hamburg.
[5] Ich danke Helmut für diesen Hinweis.
[6] Das gegenwärtig und in unseren Breiten weitgehend durchgesetzte Modell hierfür ist die (Klein)Familie. Nur ganz grob hierzu einige unvorsichtige Stichworte: Politisch geriet dieses Modell in unserer Szene nach Lektüre von Engels Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats – mit Recht – in Verruf. Dazu kamen die Thesen vom Zusammenhang zwischen Familie, Sexualität, autoritärem Charakter und Nationalsozialismus (Adorno, W. Reich, Marcuse…). Unsere Versuche einer anderen Praxis: Öffnung des privaten Rahmens, Debatte um autoritäres Verhalten und Gewalt unseren Kindern gegenüber, Debatte um Mackerverhalten von Vätern, kollektive Kindererziehung. Das war – ich war hieran als Mutter beteiligt – gut, richtig, entlastend. Um das gegen das Rabenmutter-(schlechte)-Gewissen durchzuhalten (Bedingung in den 70ern: lediglich 8 Wochen Schutzfrist nach Geburt für die Mutter, danach Kind in die Krippe und wieder in den Job oder kündigen!), führten wir ideologische Debatten: der Bereich Leiblichkeit, psychosozialer Dimension der Mutter‐Kind‐Beziehung in Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit war das Einfallstor von Familienideologie, aus der wir uns lösen wollten. Richtig und falsch; Befreiung und Abwehr. Das thematische Feld Familie spielt in die Heimatdebatte rein: im rechten Diskurs Romantisierung der Einzigartigkeit von Mutter‐Kind‐Beziehung, Idyllisierung schlechter Verhältnisse, Abschottung vor Einmischung ins Private; in der linken Kritik spiegelbildlich die Vermeidung über diesen Kram der frühen Sozialisation zu reden? Der Begriff Familie taucht in Ebermanns Buch überwiegend, ich glaube ausschließlich, in der Kombi Familien und andere Höllen auf. Vielleicht sollte man als nächstes Projekt Familienfeindschaft und/oder Bekenntnis zur Familienlosigkeit in Angriff nehmen? Das ist polemisch, das gebe ich zu, trifft aber vielleicht ein bisschen die hier agierende Abwehr?
[7] Vilém Flusser (1994; 2013). Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit (15 – 30). In: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus (23). CEP Europäische Verlagsanstalt. Berlin/Wien.
[8] Vilém Flusser (1994; 2013). Um entsetzt zu sein, muss man vorher sitzen (35 – 37). In: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus (36). CEP Europäische Verlagsanstalt. Berlin/Wien.
[9] Mense (2019): Vorwort zu Ebermann Linke Heimatliebe. Eine Entwurzelung, (7 – 15), konkret texte 75. (14) Hamburg.
[10] In deren gezieltem Entzug scheint die Wirksamkeit der Isolationshaft zu liegen, danke Eckehard für den Hinweis.
[11] Vilém Flusser (2013, 1994). Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit (15 – 30). In: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. CEP Europäische Verlagsanstalt. Berlin/Wien. Er fügt hinzu: „Die Pariser Clochards wohnen unter Brücken, die Zigeuner in Karawanen, die brasilianischen Landarbeiter in Hütten, und so entsetzlich es klingen mag, man wohnte in Auschwitz“ (27).
[12] Danke — Marianne — für diese Ergänzung.
[13] Hierbei sei angemerkt: ich beziehe mich nur auf die zitierten Texte, kenne die drei Autoren nicht umfassend.
[14] Marianne fragte mich danach.
[15] Aus der Häufigkeit der Adorno‐Zitate über die letzten Jahre in Konkret, konkret texten und ähnlichen Publikationen könnte man schließen, dass Adornos Denken einen durchdachten Bezugsrahmen für die Szene darstellt. Ich bin nicht sicher, ob der Eindruck nicht täuscht.
[16] traditioneller Wunsch am jüdischen Sederabends, dem Vorabend des Pessach‐Festes.
[17] Flusser (1994; 2013): Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit (15 – 30). In: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus (15). CEP Europäische Verlagsanstalt. Berlin/Wien.
[18] archplus_ausgabe_116_seite_12.pdf bei www.archplus.net. Und: Flusser (1994; 2013): (20 – 21)
[19] Flusser ist Kommunikationswissenschaftler; er spielt assoziativ mit den deutschen Worten sitzen, entsetzen (als Negation des Sitzens), Besitz, sesshaft gegenüber dem nomadischen; die Nomaden bauen keine Mauern, sie machen Er‐fahrungen, im „fahren“ steckt die Bewegung von Ort zu Ort. Um etwas zu erfahren, müssen wir uns entsetzen, den Besitz verlassen und losfahren. Flusser (1994; 2013): Er‐fahrung (79 – 84). Und: Nomadische Überlegungen (55 – 64). Und: Für eine Philosophie der Emigration (31 – 37). Alles in: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. CEP Europäische Verlagsanstalt. Berlin/Wien
[20] Vilém Flusser (1994; 2013). Um entsetzt zu sein, muss man vorher sitzen (35 – 37). In: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. (35) CEP Europäische Verlagsanstalt. Berlin/Wien.
[21] Jean Améry (1966; 1977): Wieviel Heimat braucht der Mensch? In: Jenseits von Schuld und Sühne. Bewältigungsversuche eines Überwältigten. (82 – 113) Stuttgart.
[22] Ein zentrales Thema Kafkas scheint mir die Bewegung raus‐aus‐dem‐Laden‐und‐zurück, weggehen‐wiederkommen, Vertreibung‐Zugehörigkeit, politisch (kein Wunder!), aber auch familiär: z.B. in seinen Erzählungen Die Verwandlung, Brief an den Vater oder Heimkehr.
[23] Améry schreibt: „Das Land, durch das ich gelegentlich reise, gibt der Welt nicht nur das Beispiel wirtschaftlicher Blüte, sondern auch demokratischer Stabilität und politischer Mäßigkeit. Es hat gewisse territoriale Forderungen zu stellen und steht im Kampfe für die Wiedervereinigung mit dem von ihm unnatürlich abgetrennten und unter fremder Gewaltherrschaft leidenden Teil seines Nationalkörpers. Doch verhält es sich in diesen Fragen anerkennenswert diskret; wie sich seit langem erwiesen hat, will sein glückliches Volk nichts wissen von nationalen Demagogen und Agitatoren“ (ebd.:115).
[24] Mense (2019): in Ebermann 2019 Linke Heimatliebe. Eine Entwurzelung (13). konkret texte 75. Hamburg.
[25] Hier verbrachte Adorno als Kind die Sommerferien. „Es gehört für mich zu den schönsten Erfahrungen, dass ich in Amorbach, dem einzigen Ort auf diesem fragwürdigen Planeten, in dem ich mich im Grunde zuhause fühle, nicht vergessen worden bin“, schrieb er laut Deutschlandfunk 1968 in einem Brief an Annemarie Trabold, die Besitzerin eines Schreibwarengeschäfts auf der Amorbacher Hauptstraße https://www.deutschlandfunkkultur.de/philosophische-orte-adornos-kindheit-in-amorbach.2162.de.html?dram:article_id=428184
[26] http://elmarlkuhn.de/fundstuecke/theodor-w-adorno/: Zitate aus dem Briefwechsel. S. 452. Literaturangabe s. link.
[27] Adorno (1951; 1969) Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben (55). Frankfurt am Main.
[28] Adorno scheint 1933 das Verbot der Rundfunkübertragung von „Negerjazz“ begrüßt zu haben: künstlerisch sei „nur durchs drastische Verdikt bestätigt, was sachlich längst entschieden ist: das Ende der Jazzmusik selber.“ https://www.jazzzeitung.de/cms/2018/07/timing-ton-wie-adorno-einmal-nicht-ueber-den-jazz-schrieb-sondern-mit-ihm/
[29] Er schreibt nicht: die deutsche Bratwurst — aber er war eben ein Bürger und kein Proll.
[30] Adorno (2002:2008): Ontologie und Dialektik (257). Frankfurt am Main.
[31] Adorno (1970; 2003): Negative Dialektik. Jargon der Eigentlichkeit (430). Frankfurt am Main.
[32] Adorno (1973; 1990): Philosophische Terminologie Bd. 1 (157). Frankfurt am Main.
[33] Der Begriff „Seiendes“ meint, so versteh ich das, konkrete Dinge – sinnlich gegebene Dinge. Adornos Feststellung bezieht sich auf unsere Sprache, die die Dinge „bestimmt“ – also begrifflich fasst — und unsere Verwendung von Begriffen.
[34] Adorno (1970; 2003): Negative Dialektik. Frankfurt am Main.
[35] Die Begriffe wahr und falsch in Adornos Philosophie sind nicht vergleichbar mit denen der Logik oder analytischen Philosophie; wenn er von Verhältnissen sagt, sie seien wahr, dann ist das wohl eher als emphatische Aussage zu verstehen, etwas sei in normativer Weise so, wie es sein solle – z.B. der Zustand der Gesellschaft, in welcher Herrschaftsfreiheit verwirklicht wäre.
[36] Bei etwa Minute 36:25 in einem Gespräch zwischen Adorno und Ernst Bloch 1964 im Rundfunk: Möglichkeiten der Utopie heute. https://www.youtube.com/watch?v=_w5E2-ABxyQ Transkription durch Marianne
[37] Adorno an Max Horkheimer, Frankfurt, 5. April 1957. Bei: http://elmarlkuhn.de/fundstuecke/theodor-w-adorno/. Und: https://bersarin.wordpress.com/2017/06/13/im-grandhotel-abgrund-der-aesthetiker-in-der-revolte/
[38] Améry (1977; 1966): Ressentiments (114 – 144). In jenseits von Schuld und Sühne (133): „Sie fanden, es sei alles in rechter Ordnung und sie hätten, des bin ich bis zur Erstarrung gewiss, für Hitler und seine Komplizen gestimmt, während sie damals, 1943, an Wahlurnen getreten“. Stuttgart.
[39] Ebermann (2019): Linke Heimatliebe. Eine Entwurzelung (60). konkret texte 75. Hamburg.
[40] Ich hoffe, ich komme nicht in die Verlegenheit, gegen die Abschiebung eines antisemitischen Bombenlegers sein zu müssen.
[41] Adorno (1973; 1990): Philosophische Terminologie Bd. 1 (155 – 159). Frankfurt am Main.