Thesen zum Nationalismus


Helmut / 17.8.2019

Einleitung

Die Anfänge des Nationalismus in Europa lagen im Kampf der Bürger gegen die feudalen Verhältnisse in der französischen Revolution von 1789 in den Forderungen nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und in Amerika in den Unabhängigkeitsbestrebungen der Kolonien, wie in der nordamerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 in der erklärt wurde: „Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, daß alle Menschen gleich erschaffen worden, daß sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden, worunter sind Leben, Freyheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.“
Der Kampf der Bürger gegen den Feudalismus und der antikoloniale Freiheitskampf waren somit die Geburtshelfer der Nationen und des Nationalismus.

Die Konstruktion des Nationalismus

Die bürgerlichen Nationen konnten das Gleichheitsversprechen nicht einhalten. Zu ungleich waren die sozialen Verhältnisse. Diese ungleichen Verhältnisse der Menschen mussten legitimiert werden. Dazu dienten verschiedene Konstrukte: die Sprache, Kultur, Ethnien, Volk, Geschichte, Mythen, Religion, Geschlecht, Antisemitismusund anderes.

Nehmen wir das Gauland‐Zitat: „Hitler und die Nazis sind nur ein Vogelschiss in unserer über 1000‐jährigen Geschichte. Und die großen Gestalten der Vergangenheit von Karl dem Großen über Karl V. bis zu Bismarck sind der Maßstab, an dem wir unser Handeln ausrichten müssen… Wir habe jedes Recht den Stauferkaiser Friedrich II., der in Palermo ruht, zu bewundern..

Das geht weit über die Vorstellung von Ernst‐Moritz Arndt und den deutschen Burschenschaften heutiger Zeit hinaus. Für diese reicht Deutschland so weit wie die deutsche Zunge. Hier wird ein Großdeutsches Reich besungen, dessen Existenz durch permanente Kriege gesichert wurde und nicht nur von der Etsch bis an den Belt reichte, sondern Palermo und Frankreich gleich mit einschloss. Der Verweis auf die 1000‐jährige Geschichte erinnert an das 1000‐jährige‐Reich, welches Hitler für den Nationalsozialismus prognostiziert hat.
Der Verweis auf die nationale Größe ist wichtiger Bestandteil nationaler Bewegungen, ob in Deutschland, England, Ungarn, Polen, Italien und anderswo. „Die faktische und empfundene Bedeutungslosigkeit des Ichs wird durch das Wir‐Gefühl verdrängt. Teil einer Nation zu sein geht mit dem Gefühl einher, seinen rechtmäßigen Platz in der Weltgeschichte einzunehmen“ (Thorsten Mense).

Wolfgang Thierse (SPD) legte die Entstehung der Nation auf eine Zeit „als der Nationalstaat noch in weiter Ferne lag“ und verweist dabei u.a. auf den Antisemiten und Bauernfeind Luther.
Der Begriff der Kulturnation spielt eine besondere Rolle bei der Überhöhung der eigenen Nation. Aber Weimar, der Wohnort von Goethe und Schiller als Inbegriff deutscher Kultur, liegt nicht weit von Buchenwald entfernt.
Im Zusammenhang mit der Diskussion über die deutsche Leitkultur und ob der Islam zu Deutschland gehöre, wurde und wird allen Ernstes Angesichts von Auschwitz und zweier von Deutschland ausgehenden Weltkriege die christlich‐jüdische Vergangenheit als Wertekanon beschworen.
Auch die Kritiker der deutschen Leitkultur laufen den Rechten hinterher. Aydan Özoguz, die Integrationsbeauftragte der SPD, fordert statt Leitkultur einen Gesellschaftsvertrag, in der „wir von jeder und jedem die klar erkennbare Anstrengung (erwarten), teilhaben zu wollen und sich einzubringen“. Wenn das keine Drohung an alle ist, die sich aus welchen Gründen auch immer nicht „einbringen“ können oder denen eine Einbringung nicht erlaubt ist.

Jürgen Habermas fordert – wie schon im Historikerstreit mit Nolte u.a. — statt Leitkultur einen „Verfassungspatriotismus“, einen Patriotismus, der nicht „gesund“ oder „aufgeklärt“ ist, aber eben patriotisch ist. Aber der „Verfassungspatriotismus“ ist kein Herzenswärmer, trotz 70‐Jahre‐Grundgesetz.

Robert Habeck fordert „einen linken Patriotismus, ein positives Bekenntnis zu der Gesellschaft, in der man agiert“. „Man braucht eine Erzählung, die auf Veränderung setzt, auf Gerechtigkeit und Internationalität. Dieses Engagement nenne ich einen ‚linken Patriotismus‘“.

Nation, Volk und Ethnie

Der Begriff „Volk“ ist äußerst ambivalent. Einerseits bezeichnet er den Gegensatz zur Herrschaft. Das Volk rebelliert gegen die Herrschaft im Sinne von „Wachet auf Verdammte dieser Erde“, mit dem Ziel, der herrschaftsfreien Gesellschaft. (s.a. der Begriff: Poder Popular = Volksmacht.)
Wenn Höcke sagt: „Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanz hat“ (Höcke, Dresden 2017), so bezeichnet er ein angeblich einheitliches Volk, welches sind von anderen Völker abgrenzt. Wie bei den Nationalsozialisten gibt es bei ihm eine nationale Gemeinschaft aller Deutschen, die Volksgemeinschaft.
Der Schlachtruf der Rechten „wir sind das Volk“ tut einerseits rebellisch, abgrenzend gegen die „linksversifften Eliten“, anderseits ist er rassistisch abgrenzend gegen alle, die nach ihrer Ansicht nicht zum Volk gehören.
Aufgrund der völkischen nationalsozialistischen Vergangenheit wird der Begriff „Volk“ derzeit noch sehr sparsam benutzt. Man – auch die Rechten — spricht im Regelfall von den Deutschen, die sich selber abschaffen (Sarrazin) oder vom „großen Austausch“, nach dem die weiße Bevölkerung Europas gegen muslimische und außereuropäische Ethnien ausgetauscht werden.

Wenn heute die Trumps, Le Pens, Höckes, Salvinis, Orbans u.a. von den Deutschen, Amerikaner, Franzosen, Ungarn, Italienern etc. sprechen, so bezeichnet das nicht die Staatsangehörigen und Bürger dieser Länder, sondern es findet eine ethnisch‐nationalistische Abgrenzung und Ausgrenzung statt.

Mit dem Niedergang der Arbeiterbewegung und der Auflösung des Realsozialismus hat langsam ein Bewusstseinswandel stattgefunden. Politische Identifikationen finden nicht mehr so sehr über Kategorien wie konservativ, liberal, sozialistisch oder sozialdemokratisch statt, sondern über deutsch, muslimisch, christlich‐abendländisch und traditionelle Kulturen.

Der Zerfall Jugoslawiens in einzelne Länder fand nicht anhand von Sprache und Kultur statt. Die Sprache war in allen ehemals jugoslawischen Ländern die gleiche, sie unterschieden sich maximal in den Dialekten und durch ihre Schrift, die teils kyrillisch, teils lateinisch war. Lediglich die Religion (orthodox, katholisch und muslimisch) war in dem weitgehend säkularisierten Land unterschiedlich. Die nationale Zugehörigkeit erfolgte nach der Selbstzuschreibung.

Noch eine Bemerkung zur Identitätspolitik der Rechten:
Nach dem Nationalsozialismus war eine offen rassistische Politik verpönt. Die Überlegenheit der weißen ‚Rasse‘ konnte und durfte nicht mehr behauptet werden. Ausgehend von Frankreich entstand in der Neuen Rechten eine Bewegung, „um die französische Nationalkultur gegen die Auswirkung der Einwanderung zu verteidigen und davor zu schützen, ‚überschwemmt‘ zu werden“ (Kenan Malik, Dschungel Nr. 33). Kulturelle Differenz wird nicht grundsätzlich, sondern nur im eigenen Land abgelehnt.

Nation und Geschlecht

Bei der Herausbildung der Nationen spielten die Geschlechterdefinitionen eine nicht unerhebliche Rolle. Das nicht eingelöste Freiheitsversprechen muss die bestehende Unterdrückung der Anderen begründen. Hierin gründet unter anderem der Rassismus, der andere Ethnien als naturgegeben minderwertig darstellen muss. Auch die Ausgrenzung der Frauen aus der öffentlichen Sphäre wurde als naturgeben dargestellt. Sie wird aus der öffentlichen Sphäre ausgegrenzt, wird aber gleichzeitig angehalten, die politische Ordnung zu stützen. „Die Identifikation der bürgerlichen Frau mit ihrem nationalen Geschlechtscharakter führte die Möglichkeit einer Selbstaffimierung mit sich, die den Konflikt zwischen den Geschlechtern verdeckte“ (Blättler, S. 116). Diese nationale Geschlechterdefinition hat Friedrich Schiller in seinem „Lied von der Glocke“ trefflich beschrieben:

…Der Mann muß hinaus
Ins feindliche Leben,
Muß wirken und streben
Und pflanzen und schaffen,
Erlisten, erraffen,
Muß wetten und wagen,
Das Glück zu erjagen.

Und drinnen waltet
Die züchtige Hausfrau,
Die Mutter der Kinder,
Und herrschet weise
Im häuslichen Kreise,
Und lehret die Mädchen
Und wehret den Knaben,
Und reget ohn Ende
Die fleißigen Hände,
Und mehrt den Gewinn
Mit ordnendem Sinn…“

Aufgabe der Frauen ist es, Kinder zu bekommen und diese aufzuziehen und somit ihren Beitrag gegen das Aussterben des Volkes zu leisten. Rassismus, Nationalismus und Sexismus sind somit ideologisch verknüpft.

Nationalismus – Abgrenzung und Ausgrenzung

Alle Konstrukte des Nationalismus bedürfen der Abgrenzung und Ausgrenzung von Anderen. Eine nationale Gemeinschaft ist objektiv nicht definierbar. Hierbei spielen Rassismus und Antisemitismus eine wichtige Rolle. Rassismus und seine kleine Schwester, die Diskriminierung, ist eine logische Konsequenz nationalen Denkens. „In allen Gesellschaften ist ein beachtlicher Teil der Bevölkerung von der Inanspruchnahme gewisser bürgerlicher Rechte ausgeschlossen, vielen – insbesondere Menschen ohne Aufenthaltsstatus werden zudem elementare Menschenrechte (Freizügigkeit, Menschenwürde) vorenthalten.“ (Mense, S. 62)

Auch der Antisemitismus diente und dient der Herausbildung einer nationalen Identität, indem die Juden als fremdes, nicht sesshaftes Volk charakterisiert werden. Dies stellte sie in den Gegensatz zur ‚natürlichen‘ nationalen Kultur und Ordnung.

Ein wesentlicher Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft ist Konkurrenz. Um auf dem Weltmarkt zu bestehen, muss eine nationale Identität geschaffen werden, damit die einzelnen die Möglichkeit haben, sich als „global player“ – als Akteur — zu verstehen. Der deutsche Griff zur Weltmacht in zwei Weltkriegen konnte nur erfolgen, weil der größte Teil der Bevölkerung sich mit den Weltmarktinteressen mobilisieren ließ. In der Griechenlandkrise, als alle Ressentiments gegen die „faulen“ Griechen mobilisiert wurden, konnte Schäuble als Vertreter nationaler deutscher Interessen zum angesehensten Politiker in Deutschland werden.

Der Nationalismus und die damit verbundene Ausgrenzung über Ethnie, Rassismus, Antisemitismus ist eine Ideologie und somit notwendig falsche Bewusstsein. „Wenn in der ganzen Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer Camera obscura auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozess hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände auf der Netzhaut aus ihrem unmittelbar physischen“. (Karl Marx, S. 24)

Die nationale Frage in der Linken

Karl Marx war noch der Ansicht, dass das Proletariat kein Vaterland hat. Aber die nationale Frage wurde im Laufe der Zeit bedeutungsvoller (antikoloniale Befreiungskämpfe, nationale Freiheitskämpfe in Europa (Polen, Irland) und das Selbstbestimmungsrecht der Nationen geriet zusehends in den Fokus nationaler Befreiungsbewegungen. Lenin betrachtete das Selbstbestimmungsrecht der Völker als notwendige Übergangsperiode bei der Verschmelzung der Nationen.

Mit wenigen anderen stellte sich Rosa Luxemburg gegen die Idee der nationalen Befreiung. „In der Klassengesellschaft gibt es eine Nation als homogenes Ganzes nicht“. Sie betonte den grundlegenden Gegensatz zwischen nationalem Interesse und dem Interesse des Proletariats.

Mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten des 1. Weltkrieg, mit dem Kniefall vor dem deutschen Militarismus und Nationalismus brach die Sozialdemokratie mit dem internationalen Selbstverständnis.

Nach dem ersten Weltkrieg wurde das Selbstbestimmungsrecht der Nationen elementarer Bestandteil linker Bewegungen.
Die KPD verstand sich in ihren Verlautbarungen in Konkurrenz zu den Nazis als wahre Interessenvertretung der deutschen Nation und vertrat einen nationalen Kommunismus.

Nach dem 2. Weltkrieg konzentrierte sich Die Sozialdemokratie auf die Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse im eigenen Land. Der noch vor dem Nationalsozialismus bestandene restliche Internationalismus war verschwunden.

1968, mit Entstehung der sozialen Bewegungen im Banner des Antiimperialismus , wurde die nationale Befreiung der unterdrückten Völker zum Schlagwort der Linken. Revolutionärer Nationalismus war wieder en vogue. Der Kampf in den Metropolen sollte die Befreiungsbewegungen in der 3. Welt unterstützen. Es bestand die vage Hoffnung, das über den Sieg der Befreiungsbewegungen sich der Klassenkampf in den Metropolen verschärfen würde.
Aber nichts von Alledem. Als Ergebnis nationaler Befreiung haben im Wesentlichen die nationalen Bourgeoisien die Funktion der Kolonialmächte übernommen. Die Herrschaften wurden lediglich ausgetauscht.

Noch kurz zum katalanischen und baskischen Nationalismus: beide treten als fortschrittlich gegenüber der rechten spanischen Regierung auf und begründen damit die angestrebte Eigenstaatlichkeit. Aber es geht um ethnische Abgrenzung, nicht um eine herrschaftsfreie Gesellschaftsform. Bei allem ‚demokratischen‘ Geschwurbel geht es um Privilegien, die die industrialisierten Gebiete des Nordens gegenüber dem übrigen Spanien haben.
 In diesem Zusammenhang möchte ich auf eine Diskussion zwischen der baskischen ETA und der zapatistischen EZNL verweisen, in der sich zwei gegensätzliche Modelle gegenüber stehen, das Modell des Rückzugs in den behüteten Schoss der Nation (ETA) und andererseits dem Ziel basisdemokratischer Strukturen und Selbstorganisation (EZNL). 


Die Attraktivität des Nationalismus

Wie bereits dargestellt spielten die Menschenrechte (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) im Gründungsakt der Nationen eine besondere Rolle. Es war das Glücksversprechen an die Menschen. Aber dieses Versprechen wurde nicht eingelöst. Die formale Gleichheit vor dem Gesetz findet ihre Grenzen in der sozialen Ungleichheit („…doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, Brecht, Dreigroschenoper). Und je niedriger die Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit, umso größer die Bedeutung nationaler Identifikationsmuster wie Sprache, Kultur, Ethnien usw. „Je größer die Ohnmacht, je bedrohter und isolierter sich der Einzelne im globalen Kapitalismus fühlt, um so mehr sehnen sich die Menschen nach Sicherheit in Form „naturgegebener“ Zugehörigkeiten, nach einer Identifikation mit dem sozialen Umfeld, das vorrangig in kulturellen und nationalen Mustern wahrgenommen wird“ (Mense, S. 100). So verbessert die Beschwörung nationaler Größe zwar nicht das Leben der Menschen, aber es vermittelt ihnen ein Gefühl der Besonderheit, was Besseres zu sein.

Der Wert der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft wird daran gemessen, was er hat. Aber mehr als die eigene Arbeitskraft haben die meisten Menschen nicht. Wird die Arbeitskraft wertlos, oder droht sie wertlos zu werden, flüchtet der Einzelne in imaginierte Gemeinschaften oder begegnet seiner Bedeutungslosigkeit durch rassistische und antisemitische Wahnvorstellungen. Der Fremde wird zum Hassobjekt, weil er angeblich seine Privilegien streitig macht.

Die hohle Phrase der nationalen Identität beutet die Sehnsucht der Menschen nach Geborgenheit in einer bedrohlichen Welt aus. Die Parole von nationaler Identität spielt die Sicherheit falscher Gefühle gegen die Unsicherheit einer widerspruchsvollen Wahrnehmung der Wirklichkeit aus.“ (Clausen, S. 40)

Literatur

Thorsten Mense, Kritik des Nationalismus
Robert Habeck, Linker Patriotismus – ein linkes Plädoyer
Simone Blättler, Nation und Geschlecht im philosophischen Diskurs der politischen Moderne
Detlev Clausen, Aspekte der Alltagsreligion
Karl Marx, Die Deutsche Ideologie, Dietz Verlag 1960

.….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….….

Tina / August 2019 / Wintersalon 4

Fragen/Ergänzungen zu Helmuts Thesen

Zum Begriff der Konstruktion:

eMense bezieht sich in Kritik des Nationalismus (2016) zustimmend auf das Buch von B. Anderson Die Erfindung der Nation. Anderson definiert Nation als Vorgestellte Gemeinschaft. Die Nation ist Ergebnis einer kollektiven mentalen Aktivität. Damit wendete Anderson 1983 das soziologische Konzept der Sozialen Konstruktion auf die Nation an.

Mense übernimmt diesen Denkansatz. In Kapitel 4 (Das Konstrukt der Nation) stellt er verschiedene modi dieser Konstruktion vor (Sprache, Biologisierung, Homogenisierung, Ausgrenzung, Rassismus, Vergeschlechtlichung).

Er warnt vor dem repressiven Element jeder vorgestellten nationalen Einheit. Die Linke müsse sich stattdessen für die Emanzipation der konkreten Einzelnen einsetzen, in einer „freien Assoziation freier Menschen“ (Marx), in der sie „ohne Angst verschieden sein können“ (Adorno) (2016:191).

Meine Frage: Teilen wir den Begriff der Sozialen Konstruktion? Ist Sprache ein Konstrukt? Geschlecht? Was ist der Gewinn dieses Denkansatzes? Was ist mit anderen vorgestellten Gemeinschaften – Wir Frauen!? Wir Proletarier!? Trifft Menses Warnung hierauf auch zu?

Zur Ambivalenz des Nationalismus:

Zum antikolonialen linken Nationalismus: Mense zitiert Frantz Fanon. Dieser

  • betone die Notwendigkeit der nationalen Form des Kampfes ausdrücklich (ebd.:129)
  • beschreibe aber auch die Gefahr der Ethnisierung (Arabisierung, Negrisierung) (ebd.:128)
  • erkläre trotzdem die Wichtigkeit der Nationalkultur für die antikolonialen afrikanischen Befreiungsbewegungen: wichtig für die Rückeroberung der Würde; um aus der verinnerlichten Minderwertigkeit rauszukommen. Sonst komme es zu „schwerwiegenden psychoaffektiven Verstümmelungen. Menschen ohne Ufer, ohne Grenzen, ohne Farbe, Heimatlose, Nicht‐Verwurzelte, Engel“ (Fanon Die Verdammten dieser Erde 185; zitiert bei Mense auf 130).

Helmut schreibt, Ergebnis der nationalen Befreiungsbewegungen der 3.Welt sei, dass nationale Bourgeoisien die Funktion der Kolonialmächte übernommen haben – es wurden lediglich „die Herrschaften ausgetauscht“.

Meine Frage: Kann man das erkämpfte Ende weißer Kolonialherrschaft so beschreiben, das Ende z.B. der Apartheid – zwar Kapitalismus ja, Korruption ja, internationale Konzerne ja, trotzdem aber ein Schritt raus aus der „verinnerlichten Minderwertigkeit“ z.B. in Südafrika, vom Tier zur BürgerIn, Befreiung der Leibeigenen, oder? Welche (neue) vorgestellte Gemeinschaft ermöglicht ggfs. diese neue Lage für die armen Socken? Und China, Vietnam?

Zur Debatte zwischen ETA (Spanien) und der EZNL (Mexiko) 2002/2003:

Der Kontext dieses Streits wird im jungle‐world Artikel Dschungel an Steppe beschrieben https://jungle.world/artikel/2003/08/dschungel-steppe

Es macht Spaß den Briefwechsel zwischen ETA und EZNL zu lesen! Warum lohnt sich das im Zusammenhang unserer Debatte über Nationalismus?

EZLN: Weil in der Ejército Zapatista de Liberación Nacional das Nationale trotz ihres Namens so gut wie keine Rolle spiele (ebd.:137). Weil sich weiter kein Bezug auf ethnische Homogenisierung findet und kein Separatismus bezogen auf den mexikanischen Staat. Stattdessen setze sich die EZLN „für die staatsbürgerlich‐demokratische Integration der ‚Indios‘“ in die mexikanische Gesellschaft ein. „Die EZLN kann als postmoderne Variante nationaler Befreiungskämpfe angesehen werden“ (ebd.:137). „Es lebe Mexiko mit seinen Indigenas!“ (aus dem Brief der EZLN).

Hier also ein positiver Bezug auf den Nationalstaat Mexiko, in dem man sich befindet und von dem man eine gleichberechtigte Aufnahme fordert.

ETA: Weil das dumpf‐trübe ethnisch‐völkische an der Argumentation der ETA dagegen sehr deutlich wird („unsere Wurzeln im Erdinneren“, die die „Wurzeln des chiapatekischen Volkes streicheln“…). Gleichzeitig wird die Bedeutung der Sprache als das Kommunikationsmittel zwischen Menschen runtergemacht: man verstehe „ohne Worte“; die Sprache ist „das Volk“, „Unsere Sprache ist unsere Heimat“.

Bei der ETA also eine Ablehnung des Nationalstaates Spanien, den man zugunsten eines eigenen Nationalstaates verlassen will.

Zur Anziehungskraft des Nationalen:

Mense betont: es gehe darum, die Anziehungskraft des Nationalen zu begreifen (ebd.:22); die Vernachlässigung dieser Frage sei auch in der marxistischen Theoriebildung festzustellen. Zum finde sich dort oft eine rein funktionelle Ableitung der nationalen Weltordnung aus der Ökonomie (ebd.:22); zum anderen werde der Nationalismus nur als Herrschaftsinstrument des bürgerlichen Staates betrachtet. Dem gegenüber müsse es in der kritischen Nationalismusforschung darum gehen, die „subjektive Seite des Nationalismus, die sozialpsychologische Ebene von nationaler Identität mit in die Kritik aufzunehmen“ (ebd.:23).

Hierzu Adorno in Aspekte des neuen Rechtsradikalismus (1967:2019): Er beschreibt den „pathischen“ Nationalismus und dessen sozialpsychologische Motive: die Drohung der Verarmung; das Gespenst der Arbeitslosigkeit; angesichts der großen Machtblöcke gebe es eine weit verbreitete Angst davor, in diesen Blöcken als Nation aufzugehen (damals Angst vor der EWG!) und dabei materiell geschädigt zu werden (alles ebd.:12); die Angst vor den Konsequenzen gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen (ebd.:14); das Gefühl der sozialen Katastrophe (ebd.:19); psychoanalytisch gesprochen gehe es bei den Rechtsradikalen um den Appell an den unbewussten Wunsch nach Unheil, nach Katastrophe (ebd.:20); Angst um die nationale Identität in Deutschland (im Gegensatz zu England, Frankreich) (ebd.:22).

Volker Weiß zitiert in seinem Vorwort zu diesem Text von Adorno Stefan Breuer, der das psychoanalytische Denken von Adorno in Bezug auf die autoritäre Persönlichkeit und den Nationalismus folgendermaßen zusammenfasst:

Indem die Individuen das Kollektivsubjekt der Nation oder den Führer zu ihrem Ideal machen und mit phantastischen Eigenschaften ausstatten, verwirklichen sie ein Stück jenes archaischen Größen‐Selbst, dessen Realisierung in der Existenz des je Einzelnen ihnen versagt ist; zugleich befreien sie sich durch Projektion von ihren eigenen im Ich‐Ideal gebundenen Aggressionen, mit der unvermeidlichen Folge, dass sich die Welt mit gefährlichen, vergeltungssüchtigen Objekten bevölkert, gegen die sich das Subjekt wiederum zur Wehr setzen muss: die Kehrseite der Gratifikationen, die der ‚sozialisierte Narzissmus‘ verschafft, ist der Verfolgungswahn.“ (Breuer) zitiert bei V. Weiß 2019:73).

Ich denke, Ähnliches lässt sich zum Antisemitismus tragen.

Weiß konkretisiert diese Schilderung auf heute: Die Erfahrung der Austauschbarkeit als Arbeitskraft könne im völkischen Phantasma eines großen Austauschs ethnischer Gruppen münden (Bezug auf R.Camus, Der große Austausch). Die Rede vom Austausch des Volkes, so Weiß, zähle zu den zentralen Propagandaphrasen der neuen Rechten (ebd.:73).

Ich ergänze im Sinne einer Konkretisierung auf heute: Klimawandel, Massenflucht aus vertrockneten vergifteten verelendeten oder überschwemmten Gebieten der Erde…. eine weitere zu Zeiten von Adorno in dieser Form noch nicht voraussehbare Problematik, an der sich Angst entzünden und die Attraktivität eines „pathischen“ Nationalismus steigern wird.

Literatur:

Adorno, Theodor W. (1967:2019): Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Suhrkamp. Berlin.

Mense, Thorsten 2016: Kritik des Nationalismus. Schmetterling Verlag. Stuttgart.

Weiß, Volker (2019): Nachwort in Adorno, Theodor W. (1967:2019): Aspekte des neuen Rechtsradikalismus . 59 – 87. Suhrkamp. Berlin.